Im 15. Jahrhundert waren es die Gebiete im heutigen Nordfrankreich und den Niederlanden, die die modernsten Komponisten hervorbrachte, die dann auch die Musik des übrigen Europa prägten. Mit "neuer Kunst".
Bildquelle: © Brüssel, Bibliothéque Royale
Um 1470 schrieb der Musiktheoretiker und Komponist Johannes Tinctoris: "Da die Sänger von den Fürsten Ehre, Ruhm und Reichtum in Fülle empfangen, begeistern sie sich brennend für das Studium der Musik. Daher kommt es, dass heutzutage das Niveau unserer Musik ein so wunderbares Wachstum erfahren hat, dass sie eine ‚neue Kunst' zu sein scheint. Man sagt, dass die Quelle und der Ursprung dieser - wie ich sagen möchte - neuen Kunst' bei den Engländern zu finden seien, unter denen besonders Dunstable hervorragt. Dessen Zeitgenossen in Gallien waren Dufay und Binchois, denen unmittelbar die jetzt lebenden Ockeghem, Busnois, Regis und Caron gefolgt sind. Unter allen, welche ich gehört habe, sind sie in der Komposition die Herausragendsten."
Diese "neue Kunst", die nach Tinctoris ab etwa 1430 die mehrstimmige Komposition prägte, ging später unter dem Begriff der "franko-flämischen Vokalpolyphonie" in die Musikgeschichte ein.
Wie Tinctoris andeutet, kamen viele große Komponisten des 15. und 16. Jahrhunderts aus den Gebieten des heutigen Nordfrankreich und Belgien: aus Cambrai, aus Brügge, aus Antwerpen oder aus Tournai. Damals gehörten diese Gebiete zum Herzogtum Burgund, später fielen sie unter die Herrschaft der Habsburger. Die bedeutendsten franko-flämischen Komponisten sind Guillaume Dufay, Josquin Desprez, Adrian Willaert und Orlando di Lasso.
Was aber ist unter "Vokalpolyphonie" zu verstehen und was war damals neu an ihr? Polyphonie - altgriechisch: "Vielklang" - das bedeutet in diesem Fall die Komposition eines Stückes für mehrere gleichberechtigte Stimmen. Es gibt keine Stimme, die vorherrscht, alle sind im Idealfall gleichermaßen am musikalischen Geschehen beteiligt. Das erreichte man dadurch, dass die musikalischen Themen nacheinander durch alle Stimmen wanderten. Mit Hilfe von Satztechniken wie Imitation, Kanon und Fuge webten die franko-flämischen Komponisten einen dicht gefügten und kunstvollen Tonsatz, in dem die Einzelstimmen perfekt ineinandergreifen wie die Rädchen in einem Schweizer Uhrwerk.
Dieser Stil, den die franko-flämischen Komponisten während der Renaissance entwickelten, prägte auch in späteren Epochen noch die Kompositionskunst - von den großen Fugen Bachs bis hin zu Satztechniken in der Zwölftonmusik oder im Serialismus des 20. Jahrhunderts.
Sendungsthema aus "Forum Alte Musik" vom 28. November 2020, 22.05 Uhr auf BR-KLASSIK