Lamentationen - Klagelieder - gehören zu den ältesten Gesängen nicht nur der Christen, sondern auch der Juden. Und über Jahrhunderte gehörten diese Texte zu den meistvertonten überhaupt. Warum? Das Stichwort gibt Auskunft...
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Über mehr als zwei Jahrtausende bereits dienen sie zum Ausdruck der Trauer: Die Klagelieder Jeremiae, oder Lamentationes Jeremiae Prophetae. Entstanden sind diese Texte vermutlich im 6. Jahrhundert vor Christus, als Beispiele feinster hebräischer Dichtkunst, und man geht heute davon aus, dass der Verfasser zwar nicht der Prophet Jeremia war, dass er aber wohl die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 586/87 vor Christus selbst miterlebt hat. Diese jedenfalls wird darin beklagt, wobei jede Lesung mit dem berühmten Vers Incipit lamentatio Jeremiae Prophetae beginnt.
"Es hebt an die Klage des Propheten Jeremia: Aleph. Weh, wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war! Sie ist wie eine Witwe, die Fürstin unter den Völkern, und die eine Königin in den Ländern war, muss nun dienen."
Noch heute lesen orthodoxe Juden diese Lamentationen, die im Versmaß der hebräischen Totenklage verfasst sind, regelmäßig an der Jerusalemer Klagemauer. Doch auch im katholischen Christentum sind sie nach wie vor fester Teil der Liturgie der Karwoche: Als Lesungen an Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag. Und hier stets endigend mit dem Mahnruf Jerusalem, convertere ad Dominum Deum tuum. "Jerusalem, bekehre dich zum Herrn, deinem Gott!" Als solche Lesungen waren die Klagelieder bereits im Mittelalter gebräuchlich; damals gewöhnlich choraliter gesungen.
Ab etwa Mitte des 15. Jahrhunderts dann gab es erste mehrstimmige Vertonungen. Eine zweibändige Sammlung polyphoner Lamentationen, die 1506 erschien, zeigt, dass Komponisten wie Alexander Agricola, Tinctoris oder Tromboncino damals aber noch ganz unterschiedliche Verse zur Vertonung aussuchten, die sie auch noch in relativ willkürlicher Reihenfolge angingen. Nachdem die Karwoche im 16. Jahrhundert theologisch an Bedeutung gewann und das Tridentinische Konzil eine dezidierte Auswahl traf, welche Lamentationes wann in welcher Reihenfolge gesungen werden sollten, avancierten die Klagelieder zu zentralen musikalischen Momenten der Kartage, und so vertonte sie nun fast jeder Komponist, der auf sich hielt: Am gebräuchlichsten übrigens sind noch heute wohl die der Renaissance, etwa von Palestrina, Lasso oder Vittoria.
Besonderes Augenmerk legten die Komponisten in ihren Vertonungen stets auf die hebräischen Buchstaben, die jeden Vers eröffnen: Aleph, Beth, Gimel, und so weiter. Vor allem, weil diese Gelegenheit boten, sich polyphon auszutoben, während man bei den eigentlichen Versen oft dezent-homophoner schrieb, um den Text verständlicher zu machen.
"Beth. Sie weint des Nachts, dass ihr die Tränen über die Wangen rinnen. Es ist keiner unter allen ihren Liebhabern, der sie tröstet. Alle ihre Freunde sind ihr untreu und zu Feinden geworden."
Seit dieser Zeit aber brach die Reihe der Klagelieder-Kompositionen nicht mehr ab: Noch bis ins späte 18. Jahrhundert vertonte fast jeder katholische Komponist auch die Lamentationen, und bis in die jüngste Zeit inspirieren diese Texte immer wieder zu wunderschöner Musik. Denn in der Musik scheint es wirklich so: Je trauriger der Anlass, desto eindrücklicher das Resultat.
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 10. März 2019, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK