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Transkribus KI trifft mittelalterliches Choralbuch

Mittelalterliche Noten, Neumen, aus alten Manuskripten in moderne Notation übertragen: Das ist eine mühsame und langwierige Aufgabe. Könnte uns da nicht KI helfen? Eine Gruppe von Wissenschaftlern aus Österreich hat es ausprobiert.

Choralbuch | Bildquelle: © Andreas Praefcke

Bildquelle: © Andreas Praefcke

Sie heißt Transkribus — und sie kann, was jeder Musikwissenschaftler, Musiker oder Historiker gerne können möchte: Handschriften jeglicher Epoche lesen, in moderner Transkription als pdf-Datei ausgeben und übersetzen. Von mittelägyptischen Hieroglyphen bis zum in zittrigem Sütterlin geschriebenen Kochbuch der Urgroßmutter. Diese KI-Plattform wurde vor knapp zehn Jahren von der Universität Innsbruck begründet und wird seit 2019 von der Europäischen Genossenschaft READ-COOP weitergeführt, der weltweit über hundert Institutionen und Mitglieder angehören. Und fast 100.000 registrierte Nutzer benutzen Transkribus inzwischen für ihre Arbeit. Aktuell lernt Transkribus nun etwas Neues: Noten aus mittelalterlichen Choralbüchern, sogenannte Neumen, zu transkribieren. In nette PDFs, leicht lesbar und durchsuchbar, und auch noch mit moderner Übersetzung des Lateinischen!

Bevor es KI gegeben hat, hat man schon versucht, automatisiert Notation zu übertragen. Jetzt ist es so, dass wir seit ein paar Jahren KI verwenden. Das war auch der Grund, warum wir Transkribus dafür eingesetzt haben.

erklärt Robert Klugseder, Kirchenmusiker und Musikwissenschaftler, der am Zentrum für digitale Geisteswissenschaften an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätig ist, und das Projekt Neumentranskription initiiert hat. Denn als Verantwortlicher für die digitale Musikwissenschaft an der Uni Wien ist er auch für die Digitalisierung aller Choralbücher in Österreich zuständig: Viele davon wertvolle Kunstwerke, reich verziert, manche Hunderttausende Euro wert.

"Bei diesen Beständen ist es immer wichtig, dass man auch Schutzdigitalisate anlegt, wenn eine Bibliothek zerstört wird, durch Feuer oder Wasser oder sonstige Einflüsse, da ist es wichtig, dass diese zumindest in digitaler Form erhalten sind."

Zugänglich für Wissenschaft und Musik

Wenn man diese Choralbücher schon alle scannt, so die Idee, sollte man sie auch gleich in moderne Notation übertragen, sie für die Wissenschaft und Musik leichter zugänglich zu machen. Aber das sind 300 Stück — von Hand ein Riesenberg Arbeit! Daher die Idee, diesen Job einer KI beizubringen. Dafür bot sich der Bestand des Grazer Franziskanerklosters ganz besonders an, denn dort werden die Handschriften der ganzen Provinz zentral aufbewahrt. Die Noten, die in diesen Büchern stehen, sind allerdings sind keine modernen Noten, sondern sogenannte Neumen.

"Das ist eine spezielle Notation, die bei uns in Europa im Mittelalter vorherrschte, im 8., 9. Jahrhundert entstanden ohne Linien, wurden sie dann später im 12., 13. Jahrhundert auf Linien gesetzt, und findet sich dann auch in den spätmittelalterlichen Quellen noch."

Tausende Scans

Nun ist es einer KI erstmal egal, ob die Zeichen, mit denen sie umgeht, Buchstaben oder Neumen sind. Aber sie muss doch erstmal lernen, was diese bedeuten. Und Vorsingen tut's da nicht. Deshalb sind Klugseder und einige seiner Studenten nun schon zwei Jahre mit der Weiterbildung für Transkribus beschäftigt: Zuerst wurde die KI mit tausenden Scans aus Choralbüchern mit unterschiedlichen Layouts, Schriftgrößen, Handschriften, Zeichnungen gefüttert. Der nächste Schritt war, die produzierten Ergebnisse zu überprüfen, um der KI quasi ihre Fehler anzustreichen. Das geschah immerhin mithilfe entsprechender Software — war aber trotzdem ein zäher Prozess, gesteht Klugseder. Aber das Tool lernt zum Glück schnell:

Also, wenn auf einer Seite vielleicht 100 Notenzeichen sind, dann waren am Anfang ungefähr zehn Notenzeichen falsch. Jetzt sind wir bei drei oder vier pro 100 Zeichen.

Auf den ersten Blick nicht viel — aber ein falsches Vorzeichen am Seitenanfang lässt natürlich ein ganzes Stück ziemlich schräg klingen. Tatsächlich hatte Transkribus jedoch die meisten Probleme etwa mit der Silbentrennung im Text, oder es verstand anfangs nicht, dass eine kunstvoll gemalte Initiale auch eine Bedeutung als Buchstabe hat — und welche. Kann so etwas aber überhaupt jemals funktionieren, bei so vielen möglichen Schriften, Bildern, Farben? Klugseder hat da keine Zweifel:

"Immer natürlich vorausgesetzt, dass diese Vorlage gut ist, dass es nicht irgendwelchen Scanfehler gegeben hat, Fliegendreck da ist, dann glaube ich durchaus, dass man das fast fehlerfrei hinbekommt."

So soll das Tool nun im zweiten Quartal des Jahres online gehen, erstmal für ausgewählte User zum Testen. Und im vierten Quartal dann, wenn die letzten Kinderkrankheiten ausgetrieben sind, auch für die Allgemeinheit. Für Mittelalterfreunde brechen also demnächst dank KI entspanntere und staubärmere Zeiten an. Doch was ist mit späteren Epochen? Kann man irgendwann auch eine barocke Kantate, eine romantische Sinfonie übertragen lassen? Klugseder wägt das Haupt. Bei mittelalterlicher Mensuralnotation funktioniere das noch ganz gut, meint er — aber für späteres Repertoire kann er noch keine unmittelbare Hoffnung machen:

"Ich sehe die Zukunft für die Mehrstimmigkeit jetzt nicht in Transkribus. Das ist zu komplex, das muss außerhalb von Transkribus stattfinden. Da gibt es schon Entwicklungen, die das versuchen. Das wird aber mit Sicherheit noch fünf bis zehn Jahre dauern, bis das bei Handschriften brauchbare Ergebnisse liefern wird."

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 23. Februar 2025, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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