München, 9. Juli 1978. Die Opernfestspiele beginnen mit einem Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper: "Lear" von Aribert Reimann. Unvergesslich in der Titelpartie: Dietrich Fischer-Dieskau. Er hatte nach langjähriger und vielfältiger Zusammenarbeit mit Reimann die Anregung zur Beschäftigung mit dem Shakespeare-Stoff gegeben.
Bildquelle: Bayerische Staatsoper/Sabine Töpffer
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Der Komponist Aribert Reimann erinnert sich an seine Reaktion auf Dietrich Fischer-Dieskaus Vorschlag, aus William Shakespeares Tragödie "König Lear" eine Oper zu machen: "Ich hatte damals viel zu große Angst und auch Respekt. Das war ein Riesenwerk, und ich sah es gar nicht in meinen Möglichkeiten, dass ich das machen könnte." Doch dann lässt Reimann das Drama nicht mehr los, und alles, was er in den folgenden Jahren komponiert, läuft auf die Oper zu. "Dieser Stoff war für mich in seiner Konzentriertheit und seiner Vielschichtigkeit ein Gleichnis unserer Zeit", sagt Reimann. "In dieser komplexen Art und in dieser Kompaktheit wüsste ich keinen Stoff, der unserer Zeit so nahesteht. Denn alles, was sich in diesem Stoff ereignet, ereignet sich heute auch."
Wie wird das Festspiel-Publikum an der Bayerischen Staatsoper das düstere Werk mit seiner harten, dunklen Tonsprache aufnehmen? Ein Werk über die Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, die Brutalität und Fragwürdigkeit allen Lebens? Vierteltonreibungen, stehende Klangflächen und verwirrende rhythmische Verschiebungen durchziehen die hochkomplexe Partitur, außerdem zu Clusterschichten verdichtete Streicher und wilde Schlagzeug-Ausbrüche. Gleichzeitig wird jede Figur scharf charakterisiert, erhält ein unverwechselbares, musikalisches Profil.
Uraufführung von Reimanns "Lear" an der Bayerischen Staatsoper 1978: Fischer-Dieskau, Varady | Bildquelle: Bayerische Staatsoper/Sabine Töpffer Der Höhepunkt der Oper geht in die Musikgeschichte ein: Lear im Sturm auf der Heide. Achtundvierzig Streicherstimmen schichten sich zu einem Viertelton-Cluster auf. Nach der nächsten Szene folgt die Pause. Dirigent Gerd Albrecht erinnert sich: "Als ich vor dem zweiten Teil zu Dietrich Fischer-Dieskau ging, lag er in ganzer priesterlicher Größe auf dem Fußboden seiner Garderobe und sagte: 'Ich komme nicht von fast 200 Puls herunter. Ich glaube, ich werde sterben.'"
Am Ende wartet frenetischer Jubel auf die Beteiligten: Fischer-Dieskau und Julia Varady, Gerd Albrecht und Regisseur Jean-Pierre Ponnelle – und natürlich Komponist Aribert Reimann. Mit einem Pappschild vor dem Bauch stehen die Menschen in den kommenden Tagen vor dem Nationaltheater und suchen Karten. Karten für eine zeitgenössische Oper, über die es in der Süddeutschen Zeitung heißt: "Vielleicht hat die Musik unseres Jahrhunderts es erst möglich gemacht, die komplexe, tiefe Parabel von der Kreatur Lear in der Oper zu erzählen."
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Sendung: "Allegro" am 9. Juli 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK