In Giuseppe Tornatores Film "Cinema Paradiso" erzählt der Filmvorführer Alfredo seinem jungen Freund folgende Geschichte: Hundert Nächte hatte ein Verehrer unter dem Fenster seiner Geliebten auszuharren, um sie heiraten zu können. Auch der 18-jährige Komponist Giuseppe Verdi hatte anspruchslose Auflagen zu erfüllen, bevor er die von ihm angebetete Margherita Barezzi heiraten konnte.
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"In einem kleinen Dorf existieren keine Ressourcen für einen Berufsmusiker. Fern von der Stadt gibt es keine Karrierehoffnungen." Als Giuseppe Verdi diese Zeilen schreibt, hat er gerade sein 23. Lebensjahr vollendet. Ein halbes Jahr vorher ist er aus Mailand in seinen Heimatort Le Roncole zurückgekehrt. So aussichtslos, wie der junge Komponist das ländliche Dasein für die berufliche Karriere beschreibt, so wenig trifft dies für ihn selbst zu. Ein Blick zurück: Als Gastwirtssohn gehört Verdi zu den Privilegierten der bäuerlichen Lebenswelt von Le Roncole. Weil es in seinem Heimatdorf keine Schule gibt, bekommt er Privatunterricht, und schon früh nimmt Dorforganist Pietro Baistrocchi den talentierten Jungen unter seine Fittiche. Verdi ist neun Jahre alt, da wird er Baistrocchis Nachfolger auf der Orgelbank.
Seine Gymnasialzeit verbringt Verdi im fünf Kilometer von Le Roncole entfernten 2.000-Einwohner-Städtchen Busseto. Für den heranwachsenden Verdi wirkt dieser Ort riesig im Vergleich mit dem Dorf, aus dem er selbst stammt. Wieder gibt es einen Menschen, der sich seiner besonders annimmt: Der Spirituosenhändler Antonio Barezzi ist ein Geschäftsfreund von Verdis Vater, der nach Feierabend ein Amateurorchester leitet.
Margherita Barezzi, Giuseppe Verdis erste Ehefrau | Bildquelle: picture-alliance / Leemage Vor allem aber interessiert sich der junge Verdi, der in der Kapelle mitspielt und sogar einige Arrangements liefert, für Barezzis Tochter Margherita. Er ist verliebt in sie, gibt ihr Gesangs- und Klavierunterricht und würde sie gewiss auch gleich heiraten. Doch von Giuseppes stürmischer Vorgehensweise ist Antonio Barezzi nicht so begeistert. Der Schwiegervater in spe verlangt, Verdi müsse eine angemessene Bewährungsprobe bestehen. Er solle sich erst mal durch ein Musikstudium höhere Meriten erwerben. In diesem Sinne verdoppelt Barezzi das Stipendium, das Verdi von der örtlichen Kreditanstalt von Busseto erhalten hat. Damit reicht das Geld für eine vierjährige Ausbildung. Für Barezzi ist das aber noch nicht genug. Damit Giuseppe seine Tochter Margherita leichter aus dem Kopf bekomme, solle sich der junge Liebhaber für sein Studium nicht in die nächst gelegene Universität nach Parma begeben, sondern ins 100 Kilometer entfernte Mailand.
Mailand, Stadt der berühmten Scala. Was braucht Verdi mehr, um seinem Talent und seiner musikalische Karriere Flügel zu verleihen? Doch was für ein Desaster: Die Aufnahmeprüfung am Mailänder Konservatorium scheitert. Verdi ist zu alt. Nur in begründeten Ausnahmefällen werden über Vierzehnjährige aufgenommen. Und Verdis Klavierspiel ist dazu nicht souverän genug. Aber auch in der Hauptstadt der Lombardei gibt es wieder einen Menschen, der sich für Verdi einsetzt: Vincenzo Lavigna, Korrepetitor an der Mailänder Scala. Er bringt Verdi die Partituren des neapolitanischen Opernkomponisten Giovanni Paisiello näher und redet in höchsten Tönen von Mozarts "Don Giovanni". 1834 springt Verdi im Casino dei Nobili, einem Club Mailänder Adliger, als Dirigent von Haydns "Schöpfung" ein und erhält den Auftrag, eine – heute leider nicht mehr erhaltene – Kantate für den Geburtstag des habsburgischen Kaisers zu schreiben. In einem Zeitungsbericht nach der Uraufführung im Jahr 1836 heißt es: "Verdis Musik ist voll warmer und ehrerbietender Gefühle für den durchlauchten Herrscher."
Verdi-Statue vor dem Teatro Verdi in Busseto | Bildquelle: © dpa - Fotoreport
Nach seinem vierjährigen Aufenthalt kehrt Verdi endlich wieder nach Busseto zurück. Bis zu seinem Debüt an der Mailänder Scala im Herbst 1839 mit seiner ersten Oper "Oberto" wird es noch mehr als drei Jahre dauern, aber in Busseto wird Verdi nun immerhin zum Musikdirektor bestellt. Und sein zukünftiger Schwiegervater Antonio Barezzi steht Verdis privaten Ambitionen nicht mehr im Wege. Am 4. Mai 1836 führt Verdi Barezzis Tochter Margherita zum Traualtar. Das Glück sollte allerdings nicht allzu lange währen. 1838 stirbt die gemeinsame Tochter im Alter von nur wenigen Monaten. Nur ein Jahr darauf ereilt den Sohn das gleiche Schicksal. Und wiederum ein Jahr darauf stirbt Margherita ebenfalls.
Giuseppe Verdi ist an einem Nullpunkt angekommen. Jahre später wird er mit dem Abstand der Zeit darüber resümieren: "Ich beschloss, nie mehr eine Note zu schreiben. An einem Winterabend begegne ich Merelli, der mir das Manuskript eines Librettos zusteckt. Ich rolle es zusammen, verabschiede mich und mache mich auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, werfe ich das Manuskript heftig auf den Tisch. Im Fallen hat es sich geöffnet, unwillkürlich haftet mein Blick auf der aufgeschlagenen Seite und dem Vers: "Va, pensiero, sull'ali dorate". Die Zeile "Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen" sollte zu jenem Gefangenenchor der Oper "Nabucco" gehören, mit der Verdi 1842 seinen endgültigen Durchbruch als Opernkomponist erlebte.
Sendung: "Piazza" am 04. Mai 2019 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK