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Was heute geschah – 22. Juni 1960 Gould schreibt einen Brief an Steinway

Toronto, 22 Juni 1960. Glenn Gould schreibt einen Brief an Steinway in New York. Glenn Gould war ein schwieriger Kunde. Die Steinway-Mitarbeiter zitterten, wenn der Künstler in der Firmenzentrale des Klavierbauers in der 75. Straße auftauchte – immer in Schal, Wintermantel und Handschuhe gekleidet, selbst im Hochsommer. Fast noch mehr aber fürchteten sich die Mitarbeiter vor seinen Briefen. Nicht nur wegen ihrer Länge, sondern auch wegen ihres Inhalts: "Ich glaube, noch kein Künstler ist bislang mit solcher Nachlässigkeit von Ihnen behandelt worden wie meine Wenigkeit", hieß es dort etwa.

Bildquelle: picture alliance / empics | Harold Whyte

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Gould schreibt einen Brief an Steinway

Der Brief, den Glenn Gould an diesem Sommertag an die Klavierbauer schrieb, war da ganz anders. Zwar wie immer voll mit ironischen Anspielungen und Sticheleien, aber: Glenn Gould schien glücklich zu sein, zum ersten Mal seit vielen Jahren: "Diese kurze Notiz soll Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass ich äußerst dankbar wäre, wenn Sie alles für die Ankunft von CD318 vorbereiten möchten, bevor sie Teil eins Ihres Urlaubs antreten und damit die Effizienz von Freres Steinway deutlich abnimmt."

Flügel mit der Seele eines Cembalos

Glenn Gould hatte ein Klavier entdeckt, das Klavier, nämlich CD318. Der Künstler war über zehn Jahre lang auf der Suche nach einem perfekten Konzertflügel gewesen, nach einem Instrument mit einem höchst klaren Ton, einer leichtgängigen und präzisen Mechanik, kurzum: Nach einem Flügel mit der Seele eines Cembalos.

Glenn Gould sucht ein Klavier bei Steinway's

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Glenn Gould chooses a piano at Steinway & Sons (New-York, 1959) | Bildquelle: Best Of Classical Music (via YouTube)

Glenn Gould chooses a piano at Steinway & Sons (New-York, 1959)

Das Paradies im Kaufhaus Eaton's

Gefunden hat Gould dieses Instrument, das seinem Ideal entsprach, in einem Kaufhaus seiner Heimatstadt Toronto. Nicht in irgendeinem Kaufhaus, sondern bei Eaton's. Eaton's war für einen kurzen Zeitpunkt das größte Kaufhaus der Welt und besaß nicht nur eine Klavier-Handlung, sondern auch einen Konzertsaal. Niemand weiß, was Glenn Gould in diesem Juni des Jahres 1960 auf der Bühne des Eaton-Auditoriums gesucht haben mochte, aber die Musikgeschichte weiß, was er gefunden hat: ein ramponiertes, zwanzig Jahre altes Instrument, das seine besten Zeiten eigentlich schon hinter sich hatte.

Das Wunderkind-Klavier kehrt zurück

Als sich Gould an die Tastatur von CD318 setzt, wird ihm klar, dass er auf diesem Flügel eines seiner ersten Konzerte als Jugendlicher gegeben haben musste, irgendwann Mitte der 40er Jahre, hier in Toronto. Gould ist begeistert – am 22. Juni 1960 schreibt Gould in seinem Brief: "Ich muss Ihnen nicht die vielen bewunderungswürdigen Vorzüge dieses Claviers schildern, genügt es doch, Ihnen mitzuteilen, dass dies das Piano ist, das meinen Weg als Wunderkind in mehreren denkwürdigen Augenblicken begleitete. Ich könnte Ihnen für das Schaufenster auch ein Foto von mir im Lord-Fauntleroy-Anzug zukommen lassen, schließlich musste ich als Kind dieses Outfit bei meinen Konzerten mit CD318 tragen."

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Johann Sebastian Bach: Prelude No. 1 in C Major from The Well-Tempered Clavier | Bildquelle: IamSylvan (via YouTube)

Johann Sebastian Bach: Prelude No. 1 in C Major from The Well-Tempered Clavier

Mit der Raumsonde ins All

In den kommenden Jahren wird der Flügel zum ständigen Begleiter Goulds. Auf CD318 entstehen die berühmten und umstrittenen Aufnahmen von Beethovens Klavierkonzerten mit den New Yorker Philharmonikern unter Leonard Bernstein, Einspielungen englischer Renaissance-Musik und auch seine wortwörtlich himmlische Interpretation des "Wohltemperierten Klaviers" ein – das Präludium C-Dur ist auf der massiv-goldenen Schallplatte eingraviert, die mit der Raumsonde Voyager in den Weltraum geschossen wurde. Gould freute dies: "Allein schon aus diesem Umstand resultiert meine Erwartung, dass ihm ein Ehrenplatz eingeräumt und die Belegschaft sich vor diesem Piano in Ehrfurcht verbeugen wird."

Was heute geschah

Unsere Reihe "Was heute geschah" zu bemerkenswerten Ereignissen der Musikgeschichte können Sie auch 7:40 Uhr und um 16:40 Uhr auf BR-KLASSIK im Radio hören. Weitere Folgen zum Nachhören finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 22. Juni 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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