In Weimar hört Goethe seinen "Erlkönig" zum ersten Mal als Lied – gesungen von einer jungen Sängerin aus Dresden, schlank, dunkle Haare, eine reizende Person: Wilhelmine Schröder, geschiedene Devrient. Der 80-jährige Goethe lässt es sich nicht nehmen, sie nach dem Vortrag auf die Stirn zu küssen und ihr zu versichern, es habe ihm gut gefallen. Ja, ihm scheine, er habe die Komposition schon früher einmal gehört, wo sie ihm gar nicht zusagen wollte. "Aber so vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild."
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Was heute geschah zum Anhören
Früher schon einmal gehört? Wohl kaum. Gesehen? Schon eher. Fast auf den Tag genau 14 Jahre war es her, da traf im Hause Goethe Post aus Wien ein. Der Inhalt: Gedichte Goethes, vertont von einem 18-Jährigen namens Franz Schubert. Darunter auch die Ballade "Erlkönig".
Erste Seite der Ausgabe: Erlkönig. Lied von Fr. Schubert / Für das Piano-Forte übertragen von Franz Liszt, um 1841 | Bildquelle: picture alliance / akg Vielleicht hat Goethe 1816 die Komposition in den Ofen geworfen. Geantwortet hat er auf die Sendung aus Wien jedenfalls nie. Keine Zeit. Zu viel Post. Und überhaupt: Wer war dieser Schubert? Und wer hatte ihn aufgefordert, Goethes alte Gedichte zu vertonen? Ein Gedicht genügt sich doch selbst, und wenn man schon meint, es unbedingt vertonen zu müssen, dann jedenfalls nicht so! So aufwühlend! Die Begleitung habe sich vielmehr ganz und gar dem Text unterzuordnen, weil sonst "der allgemeine lyrische Charakter ganz aufgehoben und eine falsche Teilnahme am Einzelnen gefordert und erregt wird."
Töne durch Töne zu malen: zu donnern, zu schmettern, zu plätschern und zu patschen, ist detestabel.
Wilhelmine Schröder-Devrient (li.) und Ulrike von Levetzow (re.) | Bildquelle: picture-alliance / akg-images Und jetzt, 1830, zwei Jahre nach Schuberts Tod und fast 50 Jahre nach der Entstehung des Gedichts, soll Goethe auf einmal nachsichtig geworden sein? Was hörte Goethe? Hörte er überhaupt? Nein, Goethe, der Augenmensch, war ganz mit Sehen beschäftigt. Er sah eine junge Frau mit dunklem Haar, schlank, eine reizende Person und von verblüffender Ähnlichkeit mit Ulrike von Levetzow, jener 17-Jährigen, der er wenige Jahre zuvor einen Heiratsantrag gemacht hatte. Die Devrient war entschieden "sein Typ". Goethe hörte den Erlkönig nicht, er sah ihn.
So vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild.
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