Die Geige sei "kein Instrument für eine Dame" – so der wohlmeinende Rat einer Musikzeitschrift 1863 auf die Anfrage einer Leserin. Auch im 20. Jahrhundert waren solche Vorurteile noch weit verbreitet. Lange haben sich Traditionsorchester wie die Berliner oder die Wiener Philharmoniker gegen weibliche Mitglieder gesperrt. Zum Glück gibt es Geigerinnen, die sich gegen alle Widerstände durchgesetzt haben – in einer Zeit, als das noch keineswegs selbstverständlich war. BR-KLASSIK stellt einige von ihnen vor. Reinhören lohnt sich!
Bildquelle: Muriel Robin
Erica Morini (1904–1995) stammt aus einer jüdischen Musikerfamilie in Wien und emigrierte mit ihrem Mann 1938 vor dem Nazi-Terror nach New York. Dort hat man ihr kurz vor ihrem Tod ihre Stradivari gestohlen, als sie schon schwer krank war – das kostbare Stück ist seither nie wieder aufgetaucht. Erica Morinis Wunderkind-Vergangenheit hat ihrer langen Karriere nicht geschadet. Ihr Repertoire war groß – aber: "Niemand spielt Kreisler wie Morini!" Das hat kein Geringerer als der legendäre Geiger und Komponist selbst über die Morini gesagt. In Fritz Kreislers "Caprice viennois" verbindet sie blitzsaubere Technik mit Wiener Schmäh – eine perfekte Melange. Die Aufnahme mit dem Pianisten Michael Raucheisen stammt von 1952 aus Berlin.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Caprice Viennois
In diesem undatierten Video kann man Erica Morini in voller Aktion erleben. Im Finale von Max Bruchs g-Moll-Konzert zeigt sie, wie virtuos und temperamentvoll sie diesen Reißer meistert. Bemerkenswert auch, wie Solistinnen damals im Film präsentiert wurden – wie Ausstellungsstücke auf einem Sockel, ohne Blickkontakt zum Dirigenten … Heute unvorstellbar.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Erica Morini - Bruch Concerto violino (Movt 3) (HD)
Die Italienerin Gioconda De Vito (1907–1994) beeindruckte nicht nur den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, mit dem sie gern aufgetreten ist. Sondern auch den Politiker Benito Mussolini, der sie gefördert hat. Etwas, das man De Vito nach dem Krieg übrigens verübelt hat. Das nimmt ihrem kantablen Geigenspiel aber nichts, das vor allem bei Brahms zu hinreißenden Ergebnissen führte. Bis heute gilt De Vitos Aufnahme des Doppelkonzerts, die sie 1952 mit dem italienischen Cellisten Amedeo Baldovino und dem Londoner Philharmonia Orchestra unter Rudolf Schwarz realisiert hat, als Meilenstein der Brahms-Diskografie. Tatsächlich verschmelzen die beiden Solostimmen hier zu jener Einheit, für die der Brahms-Biograf Max Kalbeck das schöne Bild von der "achtsaitigen Riesengeige" gefunden hat.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Brahms: Double Concerto (Gioconda De Vito ; Baldovino; Schwarz)
Die ungarische Geigerin Johanna Martzy (1924–1979) hat vor allem in Amerika Furore gemacht. Doch politische Querelen beschädigten ihre Karriere nach dem Krieg nachhaltig, und mit 54 Jahren erlag sie ihrer Krebserkrankung. Dass Johanna Martzy eine rückhaltlose Ausdrucksmusikerin war, dokumentiert vor allem ihre betörend schöne Interpretation des Violinkonzerts von Antonín Dvořák, bis heute eine Referenzaufnahme. Sie hat es 1953 mit ihrem ungarischen Landsmann Ferenc Fricsay am Pult eingespielt, damals Chefdirigent des RIAS-Symphonie-Orchesters Berlin. Einfach unwiderstehlich!
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Dvorak Violin Concerto in A min, Op. 53-Johanna Martzy,Ferenc Fricsay,Berlin RIAS Symphony Orchestra
Das größte Talent unter den Geigen-Solistinnen des frühen 20. Jahrhunderts war zweifellos die gebürtige Pariserin Ginette Neveu (1919–1949). Eine frühreife – und leider auch früh verstorbene – Ausnahmemusikerin. Ihr großer künstlerischer Ernst ist durch einen imposanten undatierten Filmausschnitt dokumentiert, der Ginette Neveu mit den Schlusstakten aus dem unsterblichen "Poème" von Ernest Chausson zeigt. Ihr Blick ist konzentriert auf den Dirigenten gerichtet, und diese geheimnisvollen Trillerketten in höchster Lage muss ihr erstmal jemand nachmachen!
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Ginette Neveu toca Chausson Poème
Ginette Neveu war eine Schülerin des berühmten Pädagogen Carl Flesch. Beim Warschauer Wieniawski-Wettbewerb 1935 überholt sie David Oistrach spielend – und landet vor ihm auf dem ersten Platz. Nach einer kriegsbedingten Zwangspause, in der sie Auftritte in Nazi-Deutschland kategorisch ablehnt, startet Ginette Neveu so richtig durch. Doch es bleiben ihr nur noch vier Jahre. 1949 kommt sie mit ihrem Bruder Jean, ihrem ständigen Klavierbegleiter, auf dem Weg nach Amerika bei einem Flugzeugabsturz über den Azoren ums Leben. Drei Jahre zuvor haben die beiden Maurice Ravels "Tzigane" aufgenommen – ein schönes Beispiel für Neveus erstklassiges Geigenspiel und vor allem für ihr unbändiges Temperament.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Ginette Neveu plays Tzigane by Ravel (vn/piano 1946)
Sendungen auf BR-KLASSIK:
"Leporello" am 11. September 2020 ab 16.05 Uhr
"Das Musik-Feature – Historische Geigerinnen" am 12. September ab 14:05 Uhr