Nicht nur an Individualität, sondern auch an symphonischer Logik und motivischer Ökonomie übertrifft Jean Sibelius' Erste Symphonie die vorangegangenen Werke des Komponisten und stellt die Weichen für Sibelius' spätere künstlerische Entwicklung. Der Dirigent Dima Slobodeniouk gibt mit Sibelius' Erster am 21. und 22. September sein Debüt beim BR-Symphonieorchester.
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Im Februar 1898 reiste Jean Sibelius mit seiner Frau Aino nach Berlin, an seinen ehemaligen Studienort. Zu dieser Zeit beschäftigte sich der Komponist mit einer Programmsymphonie, zu der ihn eine Aufführung von Berlioz' "Symphonie fantastique" inspiriert hatte. Nach diesem Konzert notierte Sibelius in sein Tagebuch die Titel der vier geplanten Sätze: "I. Musikalischer Dialog, kalt bläst der Wind; II. Heine, Die nördliche Tanne träumt von der Palme des Südens; III. Ein Wintermärchen; IV. Jormas Himmel" (nach einem Abschnitt aus einem Roman von Juhani Aho). Obwohl sich Sibelius intensiv mit der damals modernen Programmmusik beschäftigte, waren ihm die klassischen Formen der absoluten Musik nicht fremd, im Gegenteil: Während seiner Studienjahre schrieb er zahlreiche Kammermusiken - Violinsonaten, Streichquartette, ein Klavierquintett -, die noch gar nichts von einer Beeinflussung durch die Kompositionen Wagners oder Liszts spüren ließen. In Berlin, wo er sich bereits 1889/1890 zu Studienzwecken aufhielt, hatte er Richard Strauss' Symphonische Dichtung "Don Juan" sowie die Symphonie "Aino" seines Landsmanns Robert Kajanus kennengelernt, und die Begeisterung für diese Art von Musik erfasste auch ihn. Es entstanden die mehrsätzige Tondichtung "Kullervo" op. 7 für Soli, Chor und Orchester, die programmlose Tondichtung "En Saga" op. 9 (beide 1892) sowie die "Lemminkäinen-Suite" op. 22 (1893-1897) - Werke, die eine immer größere Sicherheit im Umgang mit dem Orchester verraten. Die neue Symphonie, an der er seit April 1898 in Berlin arbeitete, hätte nun wohl die Reihe dieser Kompositionen fortgesetzt, wenn Sibelius sich an seine ursprünglichen Pläne gehalten hätte. Doch dazu kam es nicht.
Als er Berlin im Juni 1898 wieder verließ und nach Finnland zurückkehrte, hatte er alle programmatischen Pläne zu einem neuen Werk fallen gelassen. Was ihn genau zu diesem Entschluss bewegte, wissen wir nicht, Tatsache ist, dass die Erste Symphonie - denn nichts anderes war Sibelius nun im Begriff auszuarbeiten - einen Wendepunkt in seinem Schaffen darstellte. Die absolute Musik war in den Vordergrund gerückt, und Sibelius wehrte sich von da an gegen programmatische Deutungen seiner Symphonik: "Meine Symphonien sind Musik - erdacht und ausgearbeitet als Ausdruck der Musik, ohne irgendwelche literarische Grundlage. Ich bin kein literarischer Musiker, für mich beginnt Musik da, wo das Wort aufhört."
"Symposium", Gemälde von Akseli Gallen-Kallela (1894); rechts im Bild: der Komponist Jean Sibelius | Bildquelle: picture-alliance/dpa
Sibelius vollendete seine Erste Symphonie im Frühjahr 1899 in Kerava, 25 Kilometer nördlich von Helsinki, wohin er sich zurückgezogen hatte, um den Verlockungen der finnischen Hauptstadt, denen er selbst nur allzu gerne nachgab, zu entgehen. Am 26. April 1899 dirigierte der Komponist persönlich die Uraufführung der Symphonie in Helsinki; außerdem stand noch die Tondichtung "Die Waldnymphe" op. 15 sowie das Chorwerk "Gesang der Athener" auf dem Programm. Die Symphonie wurde freundlich aufgenommen, doch das Chorstück erhielt den größten Beifall. Der Grund dafür ist leicht einzusehen: Der "Gesang der Athener" ist Sibelius' Reaktion auf das berüchtigte, kurz zuvor erlassene "Februar-Manifest" des russischen Zaren Nikolaus II., mit dem dieser Finnland vieler seiner Selbstbestimmungsrechte beraubte.
Die aufgewühlte, antirussische Stimmung jener Jahre führte dazu, dass Sibelius' Erste Symphonie verschiedentlich als ein in Töne gefasster Freiheitskampf des finnischen Volkes gedeutet wurde - was den Intentionen des Komponisten keinesfalls entsprach. Außerdem kann man in dem Werk, trotz aller kräftigen Individualität in Tonsprache und Formgestaltung, sogar einige Einflüsse russischer Musik ausfindig machen. Insbesondere Tschaikowsky hat in Sibelius' Symphonie die eine oder andere Spur hinterlassen, etwa in der Melodik des langsamen Satzes. Tschaikowskys "Pathétique" war 1894 und 1897 in Helsinki aufgeführt worden, und die Tatsache, dass Sibelius' symphonischer Erstling ebenso im Piano und in Moll endet - beides war zu der Zeit ungewöhnlich - erinnert an das Vorbild des Russen.
Davon abgesehen ist Sibelius' Erste Symphonie ein Dokument des Selbstbewusstseins ihres Schöpfers und steht noch dazu quer zum Zeitgeist. Man denke an die berühmt gewordene Unterhaltung zwischen Sibelius und Mahler, in dem dieser forderte, die Symphonie müsse "wie die Welt sein" und alles umfassen, jener jedoch dagegenhielt, dass er von einer Symphonie vor allem Strenge, Logik und inneren Zusammenhang zwischen den Motiven erwarte. An symphonischer Logik und motivischer Ökonomie übertrifft die Erste Symphonie in der Tat alle vorangegangenen Kompositionen Sibelius'. Das gesamte Material des Werks rekrutiert sich aus der langsamen, von einem Paukenwirbel untermalten Melodie der Solo-Klarinette (Andante, ma non troppo), die vor dem "eigentlichen" Beginn des ersten Satzes (Allegro energico) quasi als Motto erklingt. Gerade dieser Kopfsatz zeigt, wie individuell Sibelius die Sonatenform schon in seinem ersten rein symphonischen Werk handhabte. Viele der für seine späteren Symphonien typischen stilistischen Charakteristika sind hier zu finden - etwa der ausgedehnte Orgelpunkt, über dem das zweite Thema in den Oboen erklingt; oder die Gestaltung der Durchführung, die, nachdem lediglich Fragmente der beiden Themen aufgetaucht sind, sich fast ausschließlich mit der auf- und absteigenden Figur beschäftigt, die in der Exposition vom ersten zum zweiten Thema überleitete (Sibelius merkte einmal an: "Ich bin der Sklave meiner Themen."); und schließlich der fast unmerkliche Übergang von der Durchführung zur Reprise, der sich nicht mit dem Wiedereintritt des ersten Themas vollzieht, sondern quasi "in der Mitte", mit dem Motiv, das sich zu Beginn direkt an das Thema anschloss. Dabei handelt es sich um eine verkürzte Reprise: Es wird nicht mehr gesagt, als unbedingt notwendig ist.
Jean Sibelius als junger Mann | Bildquelle: picture-alliance/dpa Der zweite Satz, Andante (ma non troppo lento), besitzt eine fünfteilige Form und ist von einem in drei Phrasen aufgeteilten Thema beherrscht, das, vom tiefen 'Es' in Kontrabässen und Harfe grundiert, den ersten Formteil vollständig ausfüllt. Am Schluss kehrt dieses Thema wieder. Den Anfang des zweiten Abschnitts bildet ein Fugato in den Holzbläsern, dann tritt ein aus dem Hauptthema abgeleitetes fallendes Skalenmotiv in den Vordergrund, das den vierten Abschnitt zu einem dramatischen Höhepunkt führt. Beim dritten Abschnitt handelt es sich um ein pastorales Intermezzo mit Hornromantik und Harfenklang. Die Motivik dieses Teils ist dem zweiten Thema des Kopfsatzes entnommen. An Bruckner gemahnt die ungestüme Rhythmik des Scherzos (Allegro). Es gibt zwei Themen, das eine prägnant in der Pauke, das andere tänzerisch beschwingt in den Holzbläsern. Unwirsch wird die Wiederkehr des ersten Themas abgeschnitten, und es folgt das Trio. Wie im Kopfsatz erscheint die Reprise des ersten Formteils in verkürzter Form; als könne er es nicht erwarten, hetzt der Satz seinem Ende entgegen
Zu Beginn des Finales (Quasi una fantasia) erklingt die langsame Klarinettenmelodie vom Anfang der Symphonie, nun von den Streichern "largamente ed appassionato" vorgetragen und von Blechbläserakkorden akzentuiert. Für den weiteren Fortgang des Satzes hat das Mottothema keine Bedeutung mehr, es dient ausschließlich der Verklammerung zwischen Anfang und Ende. Dramatische Kämpfe prägen dieses Finale, in dem zwei Themenkomplexe sich abwechseln, der eine schnell und energisch (Allegro molto) der andere gesanglich, beinahe hymnisch (Andante assai) und motivisch dem Hauptthema des langsamen Satzes entlehnt. Die Coda beruht auf der Thematik des Allegro molto und steigert sich zu einem tragischen Höhepunkt, der jedoch am Ende in sich zusammensinkt. Den Schlusspunkt setzen jene zwei Pizzicato-Akkorde, mit denen auch der Kopfsatz ausklang, nun jedoch decrescendierend bis zu einem ebenso illusionslosen wie endgültigen "Piano".
Donnerstag, 21. September 2017, 20:00 Uhr
Freitag, 22. September 2017, 20:00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Jean Sibelius: En saga op. 9
Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 4 g-Moll, op. 40
Jean Sibelius: Symphonie Nr. 1 e-Moll, op. 39
Leif Ove Andsnes (Klavier)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Dirigent: Dima Slobodeniouk
Das Konzert am 22. September wird auf BR-KLASSIK live übertragen.