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Zu Besuch bei Sir John Eliot Gardiner Traktor statt Taktstock

John Eliot Gardiner gilt als der Grandseigneur der Alten Musik. Doch er ist auch passionierter Landwirt, Waldbesitzer, Rinder- und Schafzüchter. Anlässlich seines 75. Geburtstags am 20. April 2018 besuchte ihn BR-KLASSIK-Autor Bernhard Neuhoff auf seinem Landsitz.

Dirigent John Eliot Gardiner | Bildquelle: picture alliance / CTK

Bildquelle: picture alliance / CTK

Südwestengland, Grafschaft Dorset, in the middle of nowhere. Zwischen den typisch englischen Hecken schlängeln sich enge Sträßchen über die Hügel. Plötzlich zweigt ein Feldweg ab. Hinter einem Gatter taucht ein altes Farmhaus aus roten Ziegeln auf, eher bäuerlich als herrschaftlich. Daraus tritt ein hochgewachsener älterer Herr. Es ist John Eliot Gardiner, Waldbesitzer, Rinder- und Schafzüchter - alles streng nach den Regeln des biologischen Landbaus.

Im Moment hat er wahnsinnig viel Arbeit. Die jungen Kälbchen sind vor wenigen Tagen auf die Welt gekommen, auch die Schafe haben Junge. "Ich bin gerade von einer anstrengenden Tournee mit dem London Symphony Orchestra zurückgekommen", erzählt er. "Jetzt freue ich mich sehr auf die nächsten Wochen, in denen ich mich endlich wieder um die Farm kümmern kann. Es gibt so viel zu tun!"

Ist das nicht fantastisch? Hier sind meine Wurzeln!
John Eliot Gardiner

Seit den 20er-Jahren prägt seine Familie diese Landschaft. Stolz zeigt Gardiner auf den Wald hinter dem Bauernhaus. Mehr als dreieinhalb Millionen Bäume haben sein Vater und sein Onkel in dieser Gegend gepflanzt. "Ist das nicht fantastisch? Hier sind meine Wurzeln!" Die Landschaft hat auch die Gardiners geprägt: Sein Vater leitete hier Volkstanzgruppen. Noch heute liebt Sir John Eliot neben dem Jazz auch die englische Volksmusik - und Komponisten wie Percy Grainger, die sich davon inspirieren ließen.

Ein Kuhstall namens "Benvenuto Cellini"

Küher der Farm von Dirigent John Eliot Gardiner | Bildquelle: © Bernhard Neuhoff Bildquelle: © Bernhard Neuhoff Im Geländewagen fährt mich Sir John Eliot durch seine Ländereien. Nach drei Minuten Fahrt erreichen wir die Ställe. Er zeigt mir die flauschigen Kälbchen, die noch etwas wackelig auf den Beinen stehen. Der eine Stall heißt "Die Lustige Witwe", der andere "Benvenuto Cellini". Beide Stücke hat er an der Oper Zürich dirigiert: In der Schweiz verdient man gut. Das Honorar hat er in die Kuhställe investiert.

Weiter geht’s mit dem Wagen den Hügel herunter. Gardiner deutet auf das weiße Haus, in dem er aufwuchs. Gern erinnert er sich an die nordenglischen Schwerttänze, die er Jahr für Jahr mit seinem Vater aufführte. Aber auch Schütz und Monteverdi wurde gesungen in der Familie Gardiner. Über das Treiben wachte mit strengem Blick kein Geringerer als der Thomaskantor. Während des 2. Weltkriegs hing hier am Treppenabsatz das berühmte originale Bach-Porträt von Elias Gottlob Haußmann - eine Leihgabe von jüdischen Freunden aus Deutschland, damit Bachs Konterfei den Krieg übersteht. Heute hängt das Bild wieder in Leipzig, wo Gardiner Präsident der Bach-Gesellschaft ist.

Der kleine John fand den Mann mit der Perücke damals allerdings ziemlich unsympathisch: "Ich konnte das Bild nicht mit der Musik zusammenbringen, die ich damals schon liebte. Ich sang als Knabensopran die Motetten, kannte meine Stimme auswendig, spielte auch zwei Violinkonzerte. Und diese Musik war so aufregend, so tänzerisch und lebendig, so geistlich im besten Sinn. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieser strenge Thomaskantor, der so pädagogisch schaute, das komponiert haben sollte." Erst viel später erkennt Gardiner: Bachs Augen und Stirn wirken zwar streng, aber der Mund ist sinnlich - wie Bachs Musik, die Verstand und Herz, Körper und Geist verbindet.

Geschichte und Arabisch statt Musik

Dirigent John Eliot Gardiner | Bildquelle: picture alliance / CTK Bildquelle: picture alliance / CTK Trotz des musischen Inputs aus der Familie entscheidet sich der junge Gardiner, der schon als Teenager Chöre leitet, erstmal für ein Studium der arabischen Sprache und Geschichte. Noch heute kann er Koranverse aufsagen. Auch dieses Interesse liegt in der Familie: Sein Großvater war ein berühmter Ägyptologe, der viel in Deutschland arbeitete, weshalb Gardiners Vater in Berlin aufwuchs. Eine Brücke bauen zwischen der Kultur des Westens und der des Nahen Ostens - das sieht der junge Gardiner als reizvolle Lebensaufgabe. Doch dann dirigiert der Arabistik-Student mit Freunden eine Aufführung von Monteverdis Marienvesper. Ein Sprung ins kalte Wasser, der unabsehbare Folgen hat: "Das war eine bekloppte Idee. Ich wusste fast nichts. Ich musste mir meine eigene Ausgabe machen. Zum Glück hatte ich Hilfe. Und zum Glück gibt es keine Aufnahme von diesem Konzert. Aber ein paar Berufsmusiker ermutigten mich und sagten: Du musst Musik studieren!"

Nach dem Dirigier-Studium bei der legendären Nadia Boulanger in Paris fährt Gardiner zweigleisig: Mit den von ihm selbst gegründeten Ensembles, dem Monteverdi Choir, den English Baroque Soloists und dem Orchestre Révolutionaire et Romantique, spielt er die Musik vom Barock bis zur Spätromantik auf historischen Instrumenten. Die Impulse und Ideen, die er dabei entwickelt, bringt er dann zu den konventionellen Ensembles. Besonders eng ist im Augenblick die Zusammenarbeit mit dem London Symphony Orchestra und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Man muss die Musiker zu Komplizen machen.
John Eliot Gardiner

Gardiner, der Perfektionist, kann auch streng sein. Und ist stets bereit, für seine künstlerischen Ideen zu kämpfen. Etwa wenn Orchestermusiker nicht mitziehen, oder wenn Pfarrer, in deren Kirche er spielen möchte, sich querstellen. "Man muss Diplomat sein. Das war früher nicht leicht für mich. Mit dem Alter wird es leichter. Man muss die Musiker zu Komplizen machen."

Sir John Eliot kann ziemlich sarkastisch werden. Doch immer geht es ihm um die Sache, um die überwältigende Schönheit und Lebendigkeit der Musik. Und die hat für ihn drei Wurzeln: Das Singen, das Sprechen und das Tanzen: "Ich habe selbst einige Jahre als Sänger gearbeitet. Das hilft, wenn man als Dirigent die Phrasierung einer Melodie vermitteln will. Und es ist gut, wenn man die historischen Tanzschritte beherrscht. Nicht nur für die Barockmusik, auch für die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts."

Mit Bernstein durch Paris

Gerade freut er sich darauf, dass er demnächst erstmals die "West Side Story" von Leonard Bernstein dirigieren wird. Im Auto sitzend erzählt er lachend, wie er Bernstein bei einem Abendessen in Paris kennenlernte - und anschließend die ganze Nacht lang mit ihm durch Montmarte zog, zweistimmig französische Arien singend.

Die Ernte, auf die der Dirigent und Biofarmer Gardiner an seinem 75. Geburtstag zurückschauen kann, ist eindrucksvoll - und wird bleiben: Seine Einspielungen der Bachschen Oratorien und des gesamten Kantatenwerks, sein Beethoven-Zyklus und seine Interpretationen von Hector Berlioz sind unübertroffen: in ihrer energiegeladenen Musizierfreude, ihrer vergeistigten Ausdruckskraft und ihrer packenden Lebendigkeit.

Sendung: "Allegro" am 20. April 2018, 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

John Eliot Gardiner im BR

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