Äußerste Perfektion, extreme Selbstkritik sowie die Fähigkeit zum Erschaffen einer gleichzeitig kristallinen wie luxuriösen Schönheit - das waren die Markenzeichen des Komponisten Henri Dutilleux, der 2013 im Alter von 97 Jahren starb. Am 22. Januar 2016 wäre er 100 Jahre alt geworden.
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Ernst von Siemens Musikpreis 2005 für Henri Dutilleux
"Der Baum der Träume", "der Schatten der Zeit", "eine ganze Welt, weit weg" – die Titel, die Henri Dutilleux seiner Musik mit auf den Weg gab, lesen sich wie Poesie, und die Klänge, die er erfand, führen die Musik zurück an ihren magischen Ursprung. Doch mit modischer Esoterik oder meditativem Dahindämmern hat sein Werk nichts zu tun. Dutilleux ist ein Meister der weißen Klangmagie, der hellen Zwischentöne und der farbigen Schatten. Er verlockt und verzaubert, ohne den Hörer einzulullen. Denn im Traumreich von Dutilleux‘ Musik ist alles mit entwaffnender Klarheit formuliert – was ihre magische Wirkung paradoxerweise verstärkt.
In der Neue-Musik-Szene war Dutilleux ein Außenseiter. Viel zu poetisch versponnen war seine Musik, als dass sie in der Nachkriegs-Avantgarde hätte reüssieren können. Die jungen Wilden um Boulez und Stockhausen setzten nach 1945 mit fanatischer Konsequenz auf die serielle Zwölftonmusik eines Anton Webern. Dutilleux verwendete zwar auch gelegentlich Zwölftonreihen, aber nie mit mathematischer Strenge. Die exzessive Rechnerei der Serialisten betrachtete er als "ästhetischen Terrorismus". Sein Ausgangspunkt, die Musik Maurice Ravels, war scheinbar hoffnungslos altmodisch. Und Dutilleux war souverän genug, das ganz offen auszusprechen: "Ravel war sehr wichtig für mich als ich 15, 20 Jahre alt war, und eigentlich ist er es bis heute. Ich habe verschiedene Werke aus dieser frühen Periode vernichtet, weil ich das Gefühl hatte, sie sind zu stark von Ravel beeinflusst, auch von Debussy. Aber meine Musik hat noch andere starke und tiefe Wurzeln in der französischen Tradition. Gabriel Fauré, Hector Berlioz – das ist eine bestimmte harmonische Sprache, der ich immer treu geblieben bin."
Ich suche meine absolute Wahrheit.
Im Jahr 2005, als ihm mit 89 Jahren endlich der Siemens-Musikpreis verliehen wurde, gab er eines seiner seltenen Interviews. Ein kleiner Herr mit dickrandiger Brille und zurückgekämmten weißen Haaren saß da etwas verloren in einem Münchner Hotelzimmer. Sehr müde und sehr bescheiden wirkte er. Nur gelegentlich blitzte, sorgfältig hinter feiner Ironie verborgen, das souveräne Selbstbewusstsein eines Meisters auf, der warten konnte, bis seine Zeit kommen würde: "Auf der andern Seite gibt es für jeden jungen Komponisten auf der ganzen Welt den Moment, in dem er sozusagen seinen Vater töten muss. Mag sein, dass ich das nicht gründlich genug getan habe. Pierre Boulez hat das sehr gewissenhaft erledigt. Aber vielleicht liegt es gerade daran, dass meine Musik für das Publikum zugänglicher ist. Doch mir geht es nie darum, verständlich zu sein. Ich suche meine absolute Wahrheit."
Geboren wurde Henri Dutilleux 1916 in Angers. Seit den frühen 30er-Jahren lebte er in Paris. Bis in die Jahre unmittelbar vor seinem Tod 2013 arbeitete er in einem kleinen Studio auf der Ile Saint Louis, unmittelbar im Schatten der Kathedrale von Notre Dame. Sein Geld verdiente er zunächst beim Rundfunk. So konnte er sich leisten, langsam zu schreiben - langsam und wenig wie seine großen Wahlverwandten Maurice Ravel und Alban Berg, deren Werkkatalog ebenso dünn ist wie der seine. Eine Handvoll Meisterwerke, mehr nicht.
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Der Komponist Henri Dutilleux und seine Frau, die Pianistin Genevieve Joy | Bildquelle: Thierry Martinot/Rue des Archives/SZ-Photo
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Der Komponist Henri Dutilleux und seine Frau, die Pianistin Genevieve Joy, im Februar 2001 | Bildquelle: Louis Monier/Rue des Archives/SZ-Photo
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Dass Dutilleux so wenig komponierte, lag auch an einer ausgeprägt selbstkritischen Haltung. Von seinem Frühwerk hat er sich distanziert. Erst mit der Klaviersonate von 1946 ließ er die Liste seiner gültigen Werke beginnen. Die Uraufführung spielte damals die Pianistin Geneviève Joy. Sie war auch 2005 bei der Verleihung des Siemens-Musikpreises unter den Ehrengästen in den Münchner Kammerspielen, mehr als 50 Jahren war Dutilleux mit ihr verheiratet.
Während die Avantgarde-Festivals wie Donaueschingen seine Musik links liegen ließen, wurde sie früh schon von den Musikern geliebt. Dutilleux hatte das Privileg, nur für die Allerbesten zu schreiben: Mstislav Rostropowitsch, Isaac Stern, Anne-Sophie Mutter, Simon Rattle und Kent Nagano haben Werke bei ihm in Auftrag gegeben. Eine Oper hat Dutilleux nie komponiert. Er habe einfach keinen Stoff gefunden, der ihm stark genug erschienen sei. Auch geistliche Musik hat er nicht geschrieben. Seine Musik ist spirituell – aber weit entfernt vom orthodoxen Katholizismus seines berühmten Kollegen Olivier Messiaen. Dutllieux kannte keine auftrumpfende Heilsgewissheit: Ihm ging es um die Schönheit der flüchtigen Augenblicke, um die unendlichen Verwandlungen der Natur.
Alle Künstler kennen das: dieses Schwindelgefühl vor dem weißen Blatt Papier.
Seine Inspiration gewann er aus Dingen, die den Blick ansaugen und lange verweilen lassen. Naturphänomene wie die Verzweigungen eines Baumes oder gespiegelte Farben im Wasser, aber auch Gedichte und Bilder haben den Anstoß gegeben zu seinen Werken: "Ich weiß sehr gut, wie das ist, wenn man ein neues Stück anfängt, und es fällt einem einfach nichts ein. Ich suche, schreibe etwas hin, aber es will nicht werden. Und plötzlich, in einem rätselhaften Augenblick, kommt da etwas, was von einem Gefühl getragen wird. Das kann vor einem Bild sein oder nach einer Lektüre. Und diese Empfindung verwandelt sich in ein musikalisches Bild. Diesen fruchtbaren Moment muss man erwischen; manchmal kommt man zu spät, und der Augenblick ist schon vorbei. Alle Künstler kennen das: dieses Schwindelgefühl vor dem weißen Blatt Papier."
Freitag, 22. Januar 2016, 20:03-22:00 Uhr
Konzertabend
Zum 100. Geburtstag des Komponisten Henri Dutilleux:
"Timbres, Espace, Mouvement"
"Le Temps l'horloge"
Symphonie Nr. 2
'La Nuit etoilee' (1888), 'Sternennacht" von Vincent Van Gogh | Bildquelle: picture-alliance/dpa In dem Cellokonzert "Tout un monde lointain" waren es Texte von Charles Baudelaire, die ihm beim Schreiben über jenes Schwindelgefühl hinweghalfen. Im Orchesterwerk "Timbres, Espace, Mouvement" war es das Gemälde "La Nuit Etoilée" von Vincent van Gogh. Bei van Gogh sieht man einen weit aufgespannten Sternenhimmel, in dem Planeten und Sonnen pulsieren, bei Dutilleux hört man ihn. Unglaublich farbig klingt das Orchester. Eigenwillig wie der Maler setzt der Komponist seine Palette ein. Van Gogh beschränkt sich auf die Farben Gelb und Blau. Dutilleux verzichtet auf Geigen und Bratschen und kontrastiert einen dunklen Streichersound, der für den Nachthimmel steht, mit metallischen Bläser- und Schlagzeugattacken: das Flimmern der Sterne, die Explosionen ferner Galaxien. Jede Station dieser musikalischen Traumreise hat, wie immer bei Dutilleux, einen unverwechselbaren, unmittelbar einprägsamen Charakter. Und obwohl der formale Ablauf unvorhersehbar scheint, kommt einem beim Hören alles absolut logisch vor: Wie im Traum fühlen sich selbst die fantastischsten Ereignisse stimmig und folgerichtig an.
Ich bin mir sicher, dass man Dutilleux‘ Musik, die sich nie bloß an Insider gerichtet, aber auch nie Konzessionen gemacht hat, noch in 100 Jahren spielen wird. Sie beweist, dass es möglich war und ist, auf höchstem kompositorischem Niveau spontan zugängliche und sinnlich schöne Musik zu schreiben - ohne billige Tricks, ohne Rückfall in die Spätromantik und ohne Flucht in wolkige Esoterik. Mit Geduld, meisterhafter Beherrschung der Mittel – und weißer Magie.