Die Mysterien des Nächtlichen faszinierten ihn. Er war mit seiner Musik den Symmetrien im Spiel von Erinnerung und Antizipation auf der Spur, den Rätseln, die im Traum begegnen und der Aura des Schönen. Nun ist Henri Dutilleux tot – einer der großen Komponisten unserer Zeit, den es nie ins Rampenlicht des Kulturbetriebs gezogen hat, ein charakterstarker nobler Künstler, der unbeeinflusst von jedweder Schule seinen eigenen Stil kultiviert hat. Ein Nachruf von Helmut Rohm.
Bildquelle: Thierry Martinot/Rue des Archives/SZ-Photo
Der Nachruf zum Nachhören
Als Dutilleux am 22. Januar 1916 in Angers im Westen Frankreichs das Licht der Welt erblickte, kämpfte sein Vater in Verdun. Als der Spross einer kunstsinnigen Familie für sein Komponieren 1938 mit dem renommierten Prix de Rome ausgezeichnet wurde, konnte er kriegshalber nur vier Monate in der Villa Medici verbringen – nicht vier Jahre, wie für Stipendiaten vorgesehen. Die Schatten des Jahrhunderts hatten ihn nicht unberührt gelassen, doch schuf Dutilleux ein von tiefer Humanität durchflutetes Oeuvre. Alle vor 1945 entstandenen Werke hat er verworfen um fortan in skrupulöser Weise ausschließlich absolute Meisterwerke gelten zu lassen. Neben einer Klaviersonate, einem fantastischen Streichquartett und anderer Kammermusik sind es vor allem die Orchesterwerke, die seinen Ruf als Virtuosen der subtilsten Satzgeflechte und Magier der Klangfarben begründeten; – zwei Sinfonien darunter, das Cellokonzert "tout un monde lontain", oder – inspiriert von einem Gemälde von Goghs – das Werk "Timbres, espace, mouvement ou La Nuit étoilée".
"Es gibt keine Instrumente, die ich bevorzuge, die Instrumentenfamilien schon. Ich habe viel für Blasinstrumente geschrieben, gerade in dem von van Gogh inspirierten Werk gibt, es viele Blasinstrumente und viele Percussion. Aber ein bevorzugtes Instrument habe ich nicht. Das Orchester, die Orchestrierung, das ist ein Spiel des Spiegels zwischen diesen verschiedenen Instrumentenfamilien, diesen Klangfarben. Bei der Wahl der Klangfarben, der orchestralen Farben, gibt es keine bevorzugten Instrumente." Henri Dutilleux
Bildquelle: Thierry Martinot/Rue des Archives/SZ-Photo Immer wieder bekam Henri Dutilleux Kompositionsaufträge von bedeutendsten Orchestern und Interpreten. Seine Musik wird weltweit aufgeführt und wurde vielfach international ausgezeichnet – darunter 2005 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis. Auch zählen erfolgreiche Komponisten zu seinen Schülern, darunter Éric Gaudibert oder Gérard Grisey. Henri Dutilleux' musikalischer Stil – darauf legte er immer wieder Wert – hat nichts von jenem Esprit, welchen man gemeinhin mit der französischen Musik in Verbindung bringt. Zwar liebte er die Musik von Berlioz, Debussy, Ravel, mochte er die Musiker der Groupe des Six – aber er fühlte sich ihrem Geist der Leichtigkeit nicht sehr nahe. Dutilleux' wie schwerelos und organisch sich entfaltende Musik sensibilisiert und kann empfänglich machen für Zeichen aus unbekannten Regionen. Sie gehört zum Kostbarsten der jüngeren Musikgeschichte des Abendlandes.
"Für mich ist die Kunst des Komponierens eine Art Zeremonie. Man muss sie ernsthaft betreiben, etwa wie die Liebe. Es ist kein Scherz Musik zu schrei-ben. Es ist nötig, das mit Tiefe zu machen. Eine Art Mystik. Ich bin kein religiöser Mensch, habe nie religiöse Musik geschrieben. Aber ich habe einen Sinn für das Mystische. Hoffe ich." Henri Dutilleux