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George Benjamin bei musica viva Ringed by the Flat Horizon

Am 27. Februar dirigiert George Benjamin das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg im Rahmen des musica viva-Wochenendes. Auf dem Programm des Konzerts steht - neben Werken von Boulez, Ligeti und Haas - Benjamins eigene Orchesterkomposition "Ringed by the Flat Horizon". Benjamin lernte zwischen seinem 14. und 18. Lebensjahr bei keinem Geringeren als Olivier Messiaen. Es überrascht daher nicht, "Ringed by the Flat Horizon", Benjamins erstes bedeutendstes Werk, seinem Lehrer gewidmet ist.

George Benjamin dirigiert | Bildquelle: BR / Astrid Ackermann

Bildquelle: BR / Astrid Ackermann

George Benjamin hat stets den besonderen Einfluss Messiaens gewürdigt, dessen Schüler er zwischen seinem 14. und 18. Lebensjahr war. Die bereits ausgereiften Werke, die er gegen Ende dieser Periode schrieb, zeugen von jener Lehrer-Schüler-Verbindung: in der Konstruktion ihrer Harmonien, in ihren zeitweise energisch gepulsten Rhythmen sowie in den Nachklängen von Messiaens "Modi mit begrenzten Transpositionsmöglichkeiten". Auch wenn solche Spuren in Ringed by the Flat Horizon noch zu finden sein mögen, erreichte Benjamin hier, im ersten bedeutenden Werk, das er fernab von Paris komponierte, seine künstlerische Reife. Und es scheint angemessen, dass er dieses Werk – im Grunde ein Graduierungsstück – Messiaen widmete.

Frühes Talent

Benjamin setzte seine Studien in Cambridge fort und begann dort – noch keine 20 Jahre alt – mit der Komposition, die er für die Musical Society der Universität vorsah. Die studentische Aufführung fand wie geplant im März 1980 statt und hinterließ einen so großen Eindruck, dass das Werk unverzüglich auf das Programm der Londoner Proms im folgenden Sommer gesetzt wurde, was Benjamin zum jüngsten Komponisten machte, der in dieser Konzertreihe vertreten war.            

Nicht nur handelte es sich um diejenige Partitur, mit der Benjamin seine Selbstständigkeit und sein künstlerisches Vermögen zur Geltung brachte, sie mag sogar die Richtung der Einflussnahme umgedreht haben:  Der markante musikalische Einfall, der anfangs in der Solo-Klarinette und viel später in allen hohen Holzbläsern erklingt – ein angehaltener hoher Ton, der schließlich hinunter und hinauf, von einem chromatischen Nachbarn zum anderen schnellt –, weist schon auf jenes Motiv voraus, das den Engel in Messiaens Oper Saint François d’Assise ankündigt.

Ich wurde von einer dramatischen Fotografie eines Gewitters über der Wüste New Mexicos angeregt.
Komponist George Benjamin über Ringed by the Flat Horizon

Ringed by the Flat Horizon erstreckt sich zu großen Teilen in den höheren Registern und ist häufig für Holzblasinstrumente gesetzt, gleichsam in Erwartung einer kommenden Schwere und eines anrückenden Basses. Diese Erwartung manifestiert sich als Bewusstsein für eine Bedrohung: Benjamin bemerkt in der Partitur, dass er unter anderem von "einer dramatischen Fotografie eines Gewitters über der Wüste New Mexicos" angeregt wurde, und in der Tat erwecken jene Momente, in denen der Bass einsetzt, den Eindruck eines Donnerns. Indem Benjamin überdies die tiefen Register vermeidet – und an diesem Punkt ist er noch ganz in Messiaens Einflussbereich –, umgeht er geschickt die harmonischen Kräfte älteren Stils, die seine Akkorde andernfalls hervorrufen könnten.

Die Quasi-Ewigkeit der menschenleeren Landschaft

George Benjamin dirigiert das Symphonieorchester | Bildquelle: Astrid Ackermann George Benjamin probt mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. | Bildquelle: Astrid Ackermann Auf der Fotografie, reproduziert auf dem Umschlag der veröffentlichten Partitur, ist darüber hinaus ein Blitzstrahl zu sehen, wodurch zwei Zeiten vereinigt werden: die Quasi-Ewigkeit der menschenleeren Landschaft und der einzelne Augenblick des Blitzeinschlags (der freilich mit dem Moment, an dem die Kamera ausgelöst wurde, übereinstimmt). Was fehlt, ist die fortlaufende Zeit der gemeinsamen menschlichen Erfahrung. Im Einklang mit diesem fotografischen Bild stellt Ringed by the Flat Horizon einen Schauplatz ohne Betrachter dar, es ist jedoch gleichermaßen ein Ort mit zahlreichen Beobachtern, deren Mentalitäten es sammelt und in den instrumentalen Linien abtastet. Sogar das episodische Cellosolo artikuliert sich als eine Stimme unter vielen, in einem Geflecht von Unähnlichkeiten, wenngleich Benjamin all diese durch seine virtuose Kontrolle von Intervall, Motiv, Modalität und Klangfarbe fein ausgestaltet und differenziert. Diese Alternativen von Gedränge und Leere werden in dem Zitat aus T.S. Eliots The Waste Land zum Ausdruck gebracht, das den anderen expliziten Ausgangspunkt Benjamins bildet (Die deutschen Verse stammen aus Karl Heinz Göllers Übersetzung von T.S. Eliots The Waste Land):

Who are those hooded hordes swarming
Over endless plains, stumbling in cracked earth
Ringed by the flat horizon only
What is the city over the mountains
Cracks and reforms and bursts in the violet air

Wer sind diese Horden mit Mönchskapuzen
die über endlose Ebenen ausschwärmen und über zerrissene Erde stolpern
umringt nur vom ebenen Horizont?
Was ist das für eine Stadt über den Bergen
Risse und Reformen und Brüche in der violetten Luft?

Das Engel-Motiv

Drei musikalische Ideen werden zu Beginn des Werks vorgestellt: eine stotternde Sequenz von Glockenakkorden im Schlagwerk, eine kleine Sekunde, ausgehalten von Streichern und Holzbläsern mittleren Registers sowie ein Donnergrollen in Pauken, Klavier und Kontrabässen. Von hier aus geben polyphon geführte Holzbläser die Richtung an: Sie verwachsen ringsum ein hohes Cis, das eine Zeit lang von der ersten Oboe gehalten wird und von dem aus die erste Klarinette das "Engel"-Motiv einführt.

Ein weiterer Einsatz von Glockenmusik treibt die Musik voran, durch einen langsameren Abschnitt mit Piccolo und Flöten hin zu einem großen Entwicklungsteil, in dem Passagen mit rasselnder Percussion sich mit den Momenten des Solo-Cellos abwechseln. Das führt, fast auf halber Länge des Stücks, zu einem lärmenden Ausbruch aller Holz- und Blechbläser in rhythmischem Unisono. Mit dem stärker hervortretenden "Engel"-Ruf drängt die Entwicklung weiter vorwärts und lässt langsam nach, wobei die Glockenakkorde wieder in Erinnerung gerufen werden. Feierliche Harmonien, nahezu ohne Schlagwerk, deuten eine Coda an. Noch ist die Energie jedoch nicht ganz verbraucht, und nun kehren die ausgehaltenen kleinen Sekunden zurück, um das finale Donnern zu verkünden, für das sich Pauken und große Trommel mit den Bartók-Pizzicati der tiefen Streicher zusammentun. Schließlich kann die Musik dorthin zurückkehren, woher sie kam.

Der Komponist George Benjamin

George Benjamin wurde 1960 in London geboren. Mit 14 Jahren nahm er an der Westminster School in seiner Heimatstadt das reguläre Musikstudium auf und ging von 1976 bis 1978 nach Paris, um bei Olivier Messiaen und Yvonne Loriod zu studieren. Das Orchesterwerk "Ringed by the Flat Horizon" wurde 1980 bei den BBC Proms gespielt und begründete seine Karriere als Komponist. 1984 kehrte George Benjamin nach Paris zurück, um seine Fertigkeiten am IRCAM bei Pierre Boulez noch zu vervollkommnen.
1987 schuf er, zum zehnjährigen Bestehen dieser Institution, das Ensemblestück "Antara", 1995 folgten, zum 75-jährigen Jubiläum der Salzburger Festspiele, die "Three Inventions for Chamber Orchestra". Boulez und das London Symphony Orchestra musizierten 2002 die Uraufführung von "Palimpsest I und II". 2008 spielten Pierre-Laurent Aimard und das Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst in Lucerne die Uraufführung von Benjamins Klavierkonzert "Duet".
George Benjamin ist auch als Dirigent erfolgreich und leitete u.a. die London Sinfonietta, das Ensemble Modern, das Cleveland Orchestra, das Koninklijk Concertgebouworkest und die Berliner Philharmoniker. Er dirigierte zahlreiche Uraufführungen u.a. von Wolfgang Rihm, Unsuk Chin, Gerard Grisey und György Ligeti. Als Professor für Komposition lehrt er am King’s College in London. George Benjamin wurde u. a. mit dem Rostrum of Composers der UNESCO, dem Lili Boulanger Award, dem Koussevitzky International Critics Award und dem Schönberg-Preis des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin ausgezeichnet.

George Benjamins Werk Ringed by the Flat Horizon erklingt im Rahmen des musica viva-Wochenendes am 27. Februar 2016 in München. Zum Konzertprogramm.

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