Ein Missverständnis führte zum sonderbaren Titel von Pierre Boulez' Werk "Cummings ist der Dichter" für gemischten Chor und Orchester. Ausgangspunkt ist ein Gedicht von Edward Estlin Cummings, vertont in 293 Takten. Das Werk kommt am 27. Februar im Rahmen des musica viva-Wochenendes zur Aufführung.
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"Cummings ist der Dichter". Durch welches Missverständnis der seltsame Name dieses Werkes für gemischten Chor und Orchester entstand, ist häufig berichtet worden: Von den Veranstaltern der Uraufführung im Vorfeld nach einem Titel gefragt, wusste Boulez zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht mehr anzugeben als den Namen des Textdichters – eine Information, die dann irrtümlich als Werktitel aufgefasst wurde. Sprach- und Verständnisschwierigkeiten mögen bei dieser Kommunikationspanne eine Rolle gespielt haben, sie wäre aber in ihrer Alltäglichkeit längst vergessen, wenn der Komponist sich nicht ihr Ergebnis zu eigen gemacht hätte: "Ich fand, dass es gar keinen besseren Titel geben könne als den, der hier durch Zufall entstanden war."
Pierre Boulez am Pult | Bildquelle: picture-alliance/dpa Dass auf diese, wenngleich ungewöhnliche Weise der Textdichter besonders herausgestellt und auf eine Ebene mit dem Komponisten gehoben wird, hat gerade im Fall des 1894 geborenen Edward Estlin Cummings seine Berechtigung: Radikaler noch als der von Boulez ebenfalls vertonte Stéphane Mallarmé bricht er den Satz, ja das Wort auf, nutzt die Buchseite zur genau komponierten räumlichen Anordnung der Zeichen und bezieht auch die Interpunktion in seine poetischen Konstruktionen mit ein. Die so im Raum angeordnete Sprache des Gedichts verliert in der Vertonung zwar ihre Eigenschaften als visuelle Poesie, sie wird unsichtbar. Dafür aber tritt, was an zeitlichen Verläufen in ihr angelegt ist, mithilfe der Musik in den Vordergrund: Eine Lücke zwischen zwei Worten bedeutet immer auch Stille, eine Klammer signalisiert auch die intendierte Gleichzeitigkeit ihres Inhalts mit dem Vorhergehenden.
Solche Mehrdimensionalitäten des Gedichts mögen den Musiker fasziniert haben. Und sie finden sich in der Komposition aufgehoben und weitergetragen, aber auch verstärkt und wie unter ein Mikroskop gelegt. Den gerade einmal hundert Zeichen des Textes entsprechen 293 Takte, in denen die vielfach ziselierte Musik aus der dichterischen Vorlage herauszuwachsen scheint. Wie so häufig bei Boulez ist diese überreich wuchernde Klanglichkeit Ergebnis einer eingreifenden Überarbeitung – eigentlich: des Weiterschreibens eines work in progress. Die Gestalt des Werkes, die 1970 ihre Uraufführung erlebte (und der bereits eine verworfene Version für Bariton und kleines Orchester vorausging), ist in der wesentlich umfangreicheren und größer besetzten Fassung von 1986 aufgegangen.
"Kultur braucht keine falsche Sicherheit, sondern offene Türen und ein Risiko." Der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez setzte sich Zeit seines Lebens mit kompromissloser Begeisterung für die Verbreitung der zeitgenössischen Musik im "normalen" Musikbetrieb ein. Dabei kam dem 1925 in Montbrison geborenen Boulez seine Persönlichkeit und sein Einfluss zugute – als Dirigent stand er bereits weltweit am Pult aller namhafter Klangkörper und als Lehrer hat er Generationen von Musikschaffenden unterrichtet, gefördert und ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen. Das von ihm 1976 in Paris gegründete IRCAM, ein Forschungsinstitut für zeitgenössische Musik am Centre Pompidou, wie auch das Ensemble Intercontemporain, das er bis 1991 leitete, gehören zu den wichtigsten Impulsgebern der zeitgenössischen Musik. Boulez’ Verhältnis zum eigenen kompositorischen Werk war dagegen stets von einer starken Skepsis geprägt – so zog er frühe Kompositionen wieder zurück und überarbeitete ältere oft mehrfach. Doch das kritische Revidieren lohnte sich – Pierre Boulez wurde u.a. mit dem Ernst von Siemens Musikpreis, dem Polar Music Prize und dem Kyoto Prize ausgezeichnet. Er starb am 5. Januar 2016 im Alter von 90 Jahren.