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Sibylle Kayser: Herr Widmann, Sie haben Ihrem Werk aus dem Jahr 2003, einer Hommage an die Musik Franz Schuberts, den Titel "Lied" gegeben – wie bringen Sie denn ein ganzes Symphonieorchester zum Singen?
Jörg Widmann: Da sprechen Sie gleich den schwersten Aspekt an. Das ist tatsächlich leicht gesagt, und auch einer meiner häufigsten Sätze im Instrumentalunterricht lautet: "Hier mehr singen." Jeder Instrumentalist und jeder Sänger weiß, dass das "Singen" – was nichts anderes heißt, als Legato herzustellen, weite Bögen zu bauen – am Allerschwersten umzusetzen ist. Für uns Klarinettisten sind Mozart und Brahms, vor allem aber auch Schubert diejenigen Komponisten, die jenes extreme, fast unmögliche Singen fordern. Mein Stück Liedhat auch damit zu tun, dass mich als Interpreten diese Unmöglichkeit/Schwierigkeit, Schubert zu spielen, besonders fasziniert: Im Oktett und im Solo der Unvollendetenkommen ständig "unendliche Melodien" vor – unendlich deshalb, weil eigentlich jedes Atmen stört. Natürlich hat Schubert diese Melodien für Interpreten geschrieben, die atmen müssen und auch sollen, aber von der Idee her sind es unendliche Melodien, die lange vor Wagner geschrieben wurden. Der Ansatzpunkt für mein Orchesterstück Liedwar daher, mich mit utopischem Komponieren auseinanderzusetzen.
Entstehungszeit:
2003, revidierte Fassung 2009
Uraufführung:
10. Dezember 2003 mit den Bamberger Symphonikern unter der Leitung von Jonathan Nott
23. April 2010 mit dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Lawrence Renes in der Barbican Hall in London (revidierte Fassung)
Lebensdaten des Komponisten:
Geboren am 19. Juni 1973 in München
Sibylle Kayser: Wie schaffen Sie diese "unendliche Melodie", die dieses Orchesterwerk in besonderer Weise kennzeichnet?
Der Komponist Jörg Widmann | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jörg Widmann: Konkret habe ich mit Instrumentengruppen gearbeitet, ganz im Schönberg’schen Sinne der Klangfarbenmelodie. Die eine Instrumentalgruppe schiebt sich unmerklich hinein, eine andere löst sich unmerklich heraus, es finden viele nahtlose Übergänge statt. Und hierfür sind gerade die Amalgam-Instrumente, wie ich sie nenne, besonders wichtig: Klarinetten, Hörner und das Akkordeon, das ich ja ganz besonders liebe. Die Schwierigkeit in diesem Stück besteht darin, dass alles ganz leicht und selbstverständlich klingen soll. Dabei funktionieren viele Klänge nur, wenn die Einschwingvorgänge verschleiert werden und alles wie im Traum unmerklich ineinander übergeht. In allen Nuancen gelingt das nur den allerbesten Orchestern. Deshalb freue ich mich besonders, dass das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks dieses Stück aufführen wird.
Sibylle Kayser: Man hat beim Hören den Eindruck, alles entsteht völlig natürlich, Eines ergibt auf organische Weise das Nächste. Ist es auch in einem "Guss" entstanden?
Jörg Widmann: Überhaupt nicht! Es war eine echte Kraftanstrengung. Ich habe mir selbst eine Wunde geschlagen und von mir etwas verlangt, von dem ich dachte, dass ich es nicht kann, nämlich Melodien schreiben. Ungefähr bis vor zehn Jahren empfand ich das Melos als den am meisten unterbelichteten Aspekt in meiner Musik. Rhythmik und Harmonik waren schon immer sehr präsent, aber nun zwang ich mich zu einem großen melodischen Bogen, und anstelle harter Wechsel, die meine Musik bis dahin charakterisierten, stehen weiche Übergänge. Das Ergebnis ist eine gut zwanzigminütige Melodie, die oft einstimmig gespielt wird. Ganz nackt. Das Schwerste, was es in der Musik gibt.
Sibylle Kayser: In "Lied" bewegen Sie sich ausschließlich auf tonalem Terrain. Dies haben Sie weder zuvor noch danach, mit Ausnahme Ihres Oktetts (ebenfalls eine Schubert-Hommage), in derartiger Stringenz getan. Wieso sind Sie hierfür zur Tonalität zurückgekehrt?
Jörg Widmann: Es ist eher ein Sich-Vorwagen auf dieses fragile Terrain. Ja, die Musik ist sicherlich irritierend tonal, aber das soll sie auch sein. Sehr wichtig ist für mich als Komponisten, dass keine wörtlichen Schubert-Zitate vorkommen, mit Ausnahme eines einzigen Quartsextakkordes in der Mitte. Alles ist meine Musik. Die Sphäre ist so offensichtlich tonal, dass es hier nur auf die Differenz ankommt: Wie fülle ich die von mir vorgegebene Tonalität aus, und was unterscheidet sie von den Komponisten des 19. Jahrhunderts? Etwa, indem ich das melodische Material in stratosphärische Randzonen führe oder die Perspektive neu beleuchte oder, indem die Hörner den Grundton in fünffachem Forte spielen und die Geigen die Melodien im Pianissimo darüber setzen, das ermöglicht neue Blickwinkel.
Sibylle Kayser: Sie verwenden immer wieder in Ihren symphonischen Werken das Akkordeon. Worin besteht für Sie der Reiz dieses Instruments, und wieso kombinieren Sie seinen Klang so gerne mit dem Orchester?
Der Komponist Jörg Widmann mit der Auszeichnung des Deutschen Musikautorenpreises in der Kategorie "Komposition Sinfonik" in Berlin (25.04.2013). | Bildquelle: picture-alliance/dpa Jörg Widmann: Ich liebe das Akkordeon, weil sein Ton, ähnlich dem der Klarinetten und Hörner, nicht vibriert. Es verfügt auf ganz natürliche Weise über die Fähigkeit, einen Ton aus dem Nichts entstehen zu lassen und wieder ins Nichts entschwinden zu lassen, allein dadurch, dass man es auseinanderzieht und wieder zusammendrückt. Ein Akkordeon ist für mich wie eine Lunge. Eigentlich habe ich das ganze Orchester in diesem Stück wie eine riesige Lunge betrachtet, mit den Vorgängen der Ein- und Ausatmung. Mit Hilfe des Akkordeons kann ich unterschiedliche Perspektiven innerhalb der Musik erzeugen. In dem großbesetzten Streicherapparat kommen alle Gradierungen von Vibrato vor – vom absoluten non vibrato über poco vibrato bis hin zum moltissimo vibrato. Mit diesen Abstufungen spiele ich, wenn zum Beispiel ein lang stehender, vibrierender Streicherton abbricht und unmittelbar darauf dieser gerade Stratosphärenton des Akkordeons erklingt. Das wirkt dann völlig anders – viel direkter und zugleich weiter weg.
Sibylle Kayser: Obwohl "Lied" eine explizite Schubert-Hommage ist, werde ich immer wieder deutlich an Mahler und an Schönberg erinnert. Woran liegt das?
Jörg Widmann: Das hat mich auch selbst überrascht. Aber man kann das technisch begründen: Wenn man eine Melodie wie aus einem Schubert-Lied in Orchester-Chöre setzt, also etwa von allen Holzbläsern unisono spielen lässt, erhält man das, was Mahler gemacht hat. So war mir das vorher gar nicht klar. Daher habe ich bei meinem Stück weniger etwas über Schubert gelernt, sondern darüber, wie nah Mahler an Schubert ist. Und der Bezug zu Schönberg wurde von mir ganz bewusst so gesetzt. Das ist vielleicht der Wienerische Kosmos, der darin auch immer durchscheint. Die Welt ist doch eine andere, wenn man EINMAL Schubert gehört hat.
Sibylle Kayser: Sie haben "Lied" 2009 einer Revision unterzogen. Wieso?
Jörg Widmann: Ich fand die Komposition formal, vom Timing her noch nicht ganz gelungen. Daher habe ich es vor allem etwas gestrafft. Jetzt ist das Stück fünf Minuten kürzer. Aber ich glaube, der Geist des Stücks, dieses hemmungslose Sich-Aussingen, bleibt nicht nur unangetastet, sondern kommt jetzt sogar besser zur Geltung. Und es endet immer noch mit einer Frage, alles ist offen…
Sibylle Kayser: "Lied" für Orchester ist der erste Teil eines dreiteiligen Zyklus’ von Orchesterwerken, worin unterschiedliche Formen des Singens in rein instrumentaler Besetzung erprobt werden. 2004 folgte "Chor" für Orchester und 2005 "Messe" für Orchester. Gab es die Idee zu einem Zyklus bereits während der Arbeit am ersten Stück, an Lied?
Jörg Widmann: Nein, die entstand erst später. Wie bei allen meinen Zyklen – etwa Lichtstudie-Zyklus oder Streichquartett-Zyklus – merkte ich nach der Fertigstellung des ersten Stückes, dass ich die Fragestellung noch nicht abschließen konnte. Im Falle von Lied handelt es sich trotz der instrumentalen Potenzierung um ein individuelles Singen, es existiert noch ein Ich. Dieses Individuum versuchte ich dann, in Chor aufzulösen. Chorsingen ist Akklamation, Affirmation, also ist auch die Musik blockhafter, monumentaler. Und in Messe wollte ich einen kompletten Messzyklus schreiben, mit Solisten, Chor, Orgel und Orchester – aber eben ohne einen einzigen Sänger.
Sibylle Kayser: Was bedeutet es Ihnen, wenn in diesem Konzert nach der Aufführung Ihres "Liedes" Schuberts Es-Dur-Messe folgt?
Jörg Widmann: Als ich davon erfuhr, hat mich das unmittelbar überzeugt. Die Schubert’sche Welt – und gerade die Messen sind ja etwas so Wunderbares – in ein Konzertprogramm mit einzubinden, indem man Liedvoranstellt, das sich vor der Kunst des Singens von Franz Schubert tief verneigt, stelle ich mir spannend vor. Und im Idealfall wird man auch nach der Hörerfahrung durch mein Stück diese Messe Franz Schuberts anders – neu – hören können.