"An diesem Ort war die Oper lebendiger als an vielen weltberühmten Bühnen" – sagt Joyce DiDonato über einen Auftritt im US-amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing. Im Rahmen eines Musikvermittlungsprojekts engagiert sich die weltbekannte Opernsängerin für inhaftierte Straftäter. Und erlebte, wie ein verurteilter Mörder die Sprache der Musik für sich entdeckte. Ein Interview über zeitlose Opernstoffe und die Kraft der Musik, über Erziehung und Verantwortung – und über die schwierige Verbindung von Kunst und Politik.
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BR-KLASSIK: Am Tag nachdem Donald Trump gewählt wurde, gab es einen Tweet, in dem Sie erwähnt wurden. Und der Twitterer schrieb, Ihr Album "In War and Peace" sei der ideale Soundtrack für dieses Wahl-Ergebnis. Sie haben geantwortet: Ihr Herz weine über das gespaltene Land, in dem Sie leben. Nicht allen Leuten gefällt es, wenn Künstler sich politisch äußern, weil sie in der Kunst eine Gegenwelt suchen, in der sie frei sein wollen von Politik. Was antworten Sie darauf?
Joyce DiDonato: Ich achte sehr darauf, dass ich mich nicht in eine Position manövriere, die den Leuten die Freude an der Musik beeinträchtigen könnte. Ich möchte nicht das musikalische Erlebnis des Publikums mit Politik kontaminieren. Trotzdem – ich komme nun mal nicht an der Tatsache vorbei, dass ich als Bürgerin im Jahr 2017 lebe, in einer sehr komplexen Welt. Und gerade meine Kunstform, die Oper, ist doch durch und durch politisch! Da gibt es wenig Ausnahmen. Vielleicht La Bohème. Aber es gibt so viele monumentale Werke der Opernliteratur, die absolut politisch sind. Fast alle beziehen Stellung zum historischen Moment, in dem sie entstanden sind. Manche sind geradezu ein Aufschrei gegen das System: Mozarts "Figaro". Händels "Giulio Cesare". Oder Rossinis "Semiramide"!
BR-KLASSIK: Aber diese Opern wurden auch von reichen, mächtigen Herrschern finanziert.
"Wir brauchen den geschützten Raum des Theaters": Joyce DiDonato | Bildquelle: BR Joyce DiDonato: Die Kunst ist eben ein erstaunliches Spannungsfeld voller Gegensätze. Das beginnt schon damit, dass die meisten Leute im künstlerischen Bereich linksliberal eingestellt sind. Die Sponsoren dagegen sind, jedenfalls bei uns in Amerika, meist ziemlich konservativ. Das Wunderbare ist, dass die Musik eine Brücke zwischen den Lagern bauen kann. Denn die Musik selbst ist nicht politisch. Aber sie kann politische Themen ansprechen, politische Emotionen wecken, etwa das Nationalgefühl stärken, religiöse Gefühle transportieren, aber auch ganz weltliche. Und wir müssen der Musik immer diese Offenheit bewahren, damit jeder Mensch, der ihr begegnet, frei ist für seine persönliche Erfahrung. Deshalb brauchen wir den geschützten Raum eines Theaters, wo es nicht unmittelbar um das eigene reale Leben geht, sondern um eine innere Erfahrung.
BR-KLASSIK: Sie sind ein Mensch, der sich sehr stark engagiert, der auch öffentlich das Wort ergreift. Und Sie sind jemand, der auch politisch aktiv wird, indem er sozial aktiv wird. Sie waren in einem Gefängnis, im Hochsicherheitsgefängnis Sing Sing. Was haben Sie mit den Gefangenen erlebt?
Joyce DiDonato: Sing Sing ist ein Hochsicherheitsgefängnis, die Männer, die da einsitzen, haben schlimmste Verbrechen begangen, jedenfalls sind sie dafür verurteilt worden. Die Carnegie Hall hat ein Musikvermittlungsprogramm. Sie gehen an ganz unterschiedliche Orte. Obdachlosenheime, Schulen in Problemvierteln, Jugendstrafanstalten. Und eines dieser Projekte findet in Sing Sing statt. Dabei geht es nicht nur um Konzerte für die Gefangenen. Nein, sie gehen zu denen und unterrichten sie darin, klassische Musik zu schreiben. Ich habe schon immer viel darüber geredet, dass die Musik die Kraft hat, ein Leben zu verändern, Menschen zu heilen und zu verbinden. Dann dachte ich: Das kann man leicht sagen, wenn man gerade auf der Bühne steht. Da haben Sie ein gebildetes und gut erzogenes Publikum, die Leute klatschen, gehen nach Hause, fühlen sich erhoben und aufgebaut. Aber was passiert eigentlich, wenn wir die gleiche Musik an einen denkbar unwahrscheinlichen Ort bringen? An einen Ort, an den Oper nicht hingehört? Denn Oper gehört nicht dahin, wo Kriminelle sind. Die meisten ohne akademische Bildung und musikalisches Vorwissen. Und das Erstaunliche ist – aber das sagt nichts gegen das Publikum an der Bayerischen Staatsoper, an der MET oder Covent Garden – das Erstaunliche ist: Diese Leute erleben das auf einer ganz physischen, existenziellen Ebene.
"Und da heißt es, Oper sei nicht mehr zeitgemäß!": Joyce DiDonato über die Aktualität von Opernstoffen | Bildquelle: BR/ Alexander Hellbrügge Ich habe die Stücke gesungen, die die Gefängnisinsassen im Rahmen des Projekts komponiert hatten. Und zwar im Duett – jeweils zusammen mit dem Häftling. Dann hieß es: Bitte bringen Sie doch auch mal eine Oper mit! Also sang ich die Arie der Cleopatra aus Händels Giulio Cesare und habe gesagt: Schaut, da ist Cleopatra, sie ist Königin, sie hat alles, was man sich wünschen kann, sie ist sexy, sie hat Macht. Aber der eine Mensch, den sie liebt, der – glaubt sie – wurde getötet. In einem Wimpernschlag hat sie alles verloren. Als die Männer das verstanden hatten, habe ich gesagt: Ihr werdet das Wort "piangero" hören. Ich weine. Den Rest meines Lebens werde ich weinen. Aber dann kommt dieser Mittelteil. Da wird sie plötzlich richtig giftig. Sie sagt: Vielleicht muss ich auch sterben. Aber wenn, dann komme ich als Geist zurück. Und ich werde dich heimsuchen, ich werde dich verfolgen und ich werde dich töten. Du Bastard! Das wird meine Rache sein. So habe ich das denen erklärt – und wie ich redete, wurde mir klar: Das ist aus dem Leben dieser Menschen gegriffen.
Und ich wusste, es hat sie im Herzen getroffen.
Und dann sang ich. Im ersten Teil waren die Häftlinge ein bisschen unruhig. Sie müssen sich vorstellen: da waren 350 Strafgefangene im Raum. Als dann der Mittelteil kam, fingen sie an zu rufen: Ja, los! Gib’s ihm! Und dann kam das Da Capo, wo plötzlich nur noch die Stimme übrigbleibt, zerbrechlich, dünn wie eine Rasierklinge, klagend. Da hätten Sie eine Stecknadel fallen gehört. Es gab keinen Mucks, und am Ende gab es keinen Applaus, die saßen alle still da. Und ich wusste, es hat sie im Herzen getroffen. Auf eine ganz unmittelbare, körperliche Weise. Das war etwas, was viele von ihnen selbst durchlebt hatten. Das war Musik, die 300 Jahre alt ist. Und da heißt es, Oper sei nicht mehr zeitgemäß. Aber an diesem Ort war sie lebendiger als an vielen weltberühmten Bühnen. Und das war für mich so ein Geschenk!
BR-KLASSIK: Glauben Sie, dass die Musik die Gefangenen geläutert hat?
Joyce DiDonato: Lustig, dass Sie fragen. Zum ersten Mal war ich vor mehr als einem Jahr dort, Ende Dezember. Ein Häftling, der für mich komponiert hatte, war sehr defensiv und isoliert. Er war neu in diesem Programm und hatte sich noch nicht in die Gruppe integriert. Er schrieb ein ziemlich schwieriges Lied. Und darin beschreibt er den Mord, den er begangen hatte. Er hat also Verantwortung übernommen – und zwar öffentlich vor seinen Mitgefangenen.
Mein Leben hat sich verändert, seit ich mit diesen Männern arbeite.
Sowas passiert nicht sehr häufig. Zehn Monate später, im vergangenen Oktober, kam ich zurück. Wir machten einen Workshop, wie vor jedem Konzert. Joseph, so heißt er, sprang in den Raum. Er war der erste, der kam. Seine Augen leuchteten. Und er hat sich zu einer Führungsfigur dieser Gruppe entwickelt. Er sagt: Los Leute, lasst uns anfangen. Er kommt zu mir, schüttelt meine Hand, sagt: Miss Joyce, ich muss Ihnen so viel erzählen. Und ich: Joseph, das geht mir genauso. Denn auch mein Leben hat sich verändert, seit ich mit diesen Männern arbeite. Und er: 'Sie können sich nicht vorstellen, was mit mir passiert ist. Ich wusste gar nicht, dass diese Welt existiert. Ich höre alles, was ich in die Hände kriege – egal ob Verdi oder Wagner oder Alban Berg, es ist mir egal, ob es atonal ist oder tonal. Diese Welt öffnet mir alles. Und jetzt weiß ich, dass ich eine Oper schreiben muss.' Der Punkt ist: Er hat die Zeit dafür. Und er hat die Energie und den Fokus.
BR-KLASSIK: Werden Sie ihm bei diesem Vorhaben, eine Oper zu schreiben, helfen?
Joyce DiDonato: Ja natürlich. Ich vermute, er wird eine Partie für mich schreiben. Das gibt ihm nicht nur eine sinnvolle Beschäftigung, sondern ist auch unglaublich therapeutisch. Denn hier haben die Häftlinge die Freiheit, sich mit Themen zu beschäftigen, die in ihrem täglichen Leben tabu sind. Da ist wieder dieser geschützte Bereich, von dem ich vorhin sprach: Im Raum des Theaters und der Musik darf man sich auf eine Weise ausdrücken, die sonst sozial nicht akzeptiert ist. Also wenn sie fragen: Verändert das die Teilnehmer? Dann sage ich: radikal.
Ich bin jetzt ein Ermutiger.
Das betrifft nicht nur die Gefangenen, sondern auch die Gefängniswärter. Sie können die Häftlinge nicht mehr nur als menschliches Gerümpel ansehen. Sie müssen sie jetzt als kreative Individuen wahrnehmen. Es verändert die Atmosphäre, die Dynamik zwischen den Teilnehmern. Und sie werden ein Beispiel für die anderen. Und ich verändere mich auch – ich bin jetzt ein Ermutiger.
BR-KLASSIK: Sie sind das sechste von sieben Geschwistern. Könnte ihre soziale Ader so stark sein, weil Sie aus einer kinderreichen Familie kommen?
Joyce DiDonato: Noch wichtiger war, dass ich in einer sehr katholischen Familie aufgewachsen bin. Mein Vater leitete einen Kirchenchor, sein Bruder war Jesuitenpater und seine Schwester Nonne. Und wenn wir am Esstisch saßen, war eines der großen Themen in unserer Familie: Wie findet jeder seine Berufung? Da gab es einen großen moralischen Ernst. Vor allem mit meinem Vater, dem ich sehr nahe stand, habe ich oft darüber gesprochen, weshalb wir auf der Welt sind, was der Sinn des Lebens ist.
"Es gibt nicht nur einen Weg, etwas für Menschen zu tun": Sängerin Joyce DiDonato | Bildquelle: BR Mein Vater hat ein sehr aufrechtes, arbeitsreiches Leben geführt, 83 Jahre lang. Und als es zu Ende ging, hat er sich Vorwürfe gemacht, dass er nicht genug getan hat. Das wichtigste, was er von seinen Kindern wollte, war, dass sie später einmal in den Himmel kommen. Und dafür war es wichtig, sich eine Berufung zu wählen. Ich habe seither natürlich meine eigenen Ideen entwickelt. Aber es hat mich geformt.
BR-KLASSIK: Sind Sie immer noch katholisch?
Joyce DiDonato: Nein. Ich bin sehr dankbar, dass ich so aufwachsen durfte. Doch diese Suche nach dem richtigen Leben, die begleitet mich noch immer sehr intensiv. Meine Erziehung hat mich zu der gemacht, die ich bin, und ich fälle kein Urteil darüber. Ich bin einfach nur dankbar. Zuerst dachte ich, dass ich Musiklehrerin an einer Highschool werden könnte. Denn dass Musik ein Teil meines Lebens sein würde, stand nie infrage.
BR-KLASSIK: Haben Sie im Kirchenchor Ihres Vaters mitgesungen?
Ich habe auch selbst einen Kirchenchor geleitet. Da habe ich zuerst die Kraft der Musik gespürt. Es gibt diesen Augenblick, in dem du deine Stimme mit der von 20 anderen Leuten verwoben hörst und spürst, dass gemeinsam etwas gelingt, was größer ist als jeder einzelne. Aber auf dem College wurde ichdann in die Welt der Oper förmlich hineingesogen. Das hat mich wirklich gepackt. Aber ich hatte Schuldgefühle. Denn ich sah, wie dringend gute Lehrer gebraucht werden. Ich ging also zu meinem Vater und sagte: Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe das Gefühl: wenn ich Opernsängerin werde, dann ist das sehr selbstsüchtig. Und das ist ein schlimmes Wort für Katholiken. Der Lehrerberuf schien viel eher die "Berufung" zu sein. Und mein Vater, der auf seine Art sehr weise war, sah mich an und sagte: Siehst Du, Joyce, es gibt nicht nur einen Weg, andere Leute zu bilden und etwas für sie zu tun. Und dieser Gedanke war für mich wirklich der Leitstern in meinem Berufsweg.
Die Fragen stellte Bernhard Neuhoff für BR-KLASSIK.
Kommentare (2)
Sonntag, 05.März, 22:48 Uhr
A. Jaschinski
Joice DiDonato
Ein beeindruckendes, berührendes Gespräch! Eine Tolle Frau und ein wunderbares Projekt. Es zeigt uns, welche Kraft die Musik haben kann und wie wichtig es ist, Hoffnung zu stiften bei Opfern wie bei Tätern, denn letzten Endes sind wir alle immer nur Menschen. Jeder kann sowohl zum Opfer wie zum Täter werden. Danke für diese Sendung!
Samstag, 04.März, 17:01 Uhr
Dr. BECK
Joice DiDonato
Wunderbar!
Der Sinn der Berufung in der Musik, das fuer die anderen etwas Gutes tun.
Dank an Joyces Vater.