SWEET SPOT.
Neugierig auf Musik
Etüden bringen die Finger auf Hochtouren, gehören zum Pflichtprogramm jedes Musikers und sind ziemlich lästig. Eigentlich. Der Pianist Daniil Trifonov zeigt, wie emotional technische Virtuosität sein kann. Auf seinem neuen Album spielt er alle Etüden von Franz Liszt.
Bildquelle: Universal
Locker ans Gelände gelehnt, die wilde Großstadt im Nacken, ein beiläufiger Blick in die Kamera. Auf seinen Covern ist Daniil Trifonov eher der lässige Typ. Sein neues Album Transcendental zeigt ihn eher tief versunken, in gelbes Licht gehüllt – fast als würde er meditieren. Für mehr Kraft im Alltag macht der Pianist Yoga. Vielleicht liegt hier sein Geheimnis: Alle Konzertetüden von Franz Liszt hat Trifonov in nur fünf Tagen aufgenommen – das klingt nach einem ziemlichen Marathon.
Ihren Namen verdankt die Doppel-CD den "Transzendentalen Etüden" von Franz Liszt. Ist hier Kants Erkenntnistheorie in einen Zyklus verpackt? Darüber darf philosophiert werden. Reine Fingerübungen durch den halben Quintenzirkel sind diese Etüden jedenfalls nicht.
Jedes Stück ist die Vertonung einer bestimmten Situation oder Handlung. Für Daniil Trifonov wird daraus eine turbulente Heldengeschichte. Schon im "Preludio" verrät er, wie er sie verpackt: Als spannenden Fantasy-Roman. Die "Paysage" wird zu einem verwunschenen, einsamen Ort, Irrlichter tanzen wie kleine Wirbelwinde in "Feux follets" und die "Wilde Jagd" endet im Chaos. Es lohnt sich also die zwölf Etüden am Stück zu genießen, so wie es sich für ein gutes Buch gehört.
Bildquelle: Universal Manche von Liszt' virtuosen Kompositionen grenzen an Unspielbarkeit. Besonders anspruchsvoll ist die Etüde "Mazeppa". Wenn technisch sehr viel los ist, bleibt das Musikalische häufig auf der Strecke. Für Daniil sind solche Extreme zusätzliche Mittel für starke Emotionen. Scheinbar mühelos erzeugt er das Bild des todgeweihten Mazeppa, der, am Rücken eines Pferdes festgebunden, durch die Steppe rast. Kahle Graslandschaft, Schneetreiben, Abendklänge - war das Transzendentale für Liszt neben den großen Gefühlen die Natur?
Noch mehr Grün gibt's in den zwei Konzertetüden "Waldesrauschen" und "Gnomenreigen". Perfekt für nasse und kalte Tage: Einfach die Augen schließen – und schon beginnt der imaginäre Spaziergang im verwunschenen Reich. Der Wind pfeift in schnellen Läufen durch die Bäume, tanzende Kobolde kichern in kurzen Vorschlägen am Klavier. Ganz anders sind die folgenden drei Konzertetüden all'italiana. Besonders "Un sospiro" erinnert an die schwelgerische Leichtigkeit der italienischen Oper. Nur, dass hier keine Primadonna seufzt und klagt, sondern der Flügel.
So wie Daniil Liszt bewundert, so sehr verehrte Liszt Paganini. Diesem widmete er die großen "Paganini-Etüden", in denen Themen einige der bekanntesten Violinstücke seines Idols einfließen.
Rasante Läufe, schneidende Akkorde, melancholische Passagen - Etüde ist nicht gleich Etüde, ist nicht gleich bloße Übung. Apropros Übung - ob Daniil seinen Körper auf einer Yoga-Matte verknotet oder seine Finger bei einer Liszt-Etüde - es führt ihn zum gleichen Ziel: Weg vom Alltag und rein in die Fantasiewelt.
Transcendental
Daniil Trifonov plays Franz Liszt
Deutsche Grammophon