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Buchtipp – "Carl Orff und der Nationalsozialismus" von Oliver Rathkolb Politisch berechnend, aber kein Nazi

Wie sehr hat sich Carl Orff vom Nazi-Regime vereinnahmen lassen oder mit ihm sogar kollaboriert? Diese Frage wurde in der musikhistorischen Forschung lange Zeit kontrovers diskutiert. Vieles blieb aber vage im Kontext von Orffs Rolle im Dritten Reich. Umso erfreulicher, dass nun der renommierte Wiener Historiker Oliver Rathkolb im Auftrag des Münchner Orff-Zentrums das Thema noch einmal eingehend behandelt hat.

Bildquelle: Schott Music

Der Buchtipp zum Anhören

1995 geriet die Musikwelt in Aufruhr. Der amerikanische Musikologe Michael Kater veröffentlichte damals einen Aufsatz, in dem er behauptete, Carl Orff habe sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegenüber den Amerikanern fälschlicherweise als Mitglied der Widerstandsgruppe "Die weiße Rose" ausgegeben. Die Empörung war riesig. Orff wurde zur Persona non grata erklärt, vor allem in der amerikanischen Forschung. "So rangierte Orff in der New York Times 1995 plötzlich neben Richard Strauss als der Parade-NS-Kollaborateur, und in einer Podiumsdiskussion, veranstaltet von der New York City Opera im März 1997 im Guggenheim Museum, überwog eine undifferenzierte Re-Nazifizierung Orffs", schreibt Rathkolb. Doch es ging noch weiter. "In den USA entwickelte sich überdies eine Debatte, die oft Kompositionen und vor allem die Carmina Burana als NS-Musik disqualifizierte."

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Aussagen auf Basis von Erinnerungslücken

Ob "Re-Nazifizierung" der passende Ausdruck ist, sei dahingestellt. In jedem Fall hielten Michael Katers Behauptungen einer eingehenden Überprüfung nicht stand, wie Publikationen der vergangenen Jahre dargelegt haben. Rathkolb greift die aktuellen Forschungen dazu auf, fasst sie zusammen und beleuchtet Orffs Rolle während der gesamten Nazi-Zeit. "Orffs Einstellungen sind nicht nazistisch. Nichtsdestotrotz war er ein Nutznießer der Nazis und kann gegenwärtig als 'Grey C, Acceptable' eingestuft werden." Das wurde damals in Orffs Akte nach dem Screening durch die Amerikaner vermerkt. Wäre Orff als Mitglied der Weißen Rose geführt worden, hätte man ihn als "Weiß" eingestuft, so Rathkolb. Nachforschungen haben ergeben, dass Katers Behauptungen auf einem Interview mit einem amerikanischen Offizier von 1993 basierten, der sich damals nur mehr unvollständig an die Vorgänge von 1945 erinnerte. Die Aussage, Orff habe sich explizit als Mitglied der Widerständler ausgegeben, findet sich darin aber nicht.

Kleine Zugeständnisse an die Nazis

Rathkolb untersucht in seinem wissenschaftlichen, aber dennoch gut lesbaren Buch eingehend, ob Orff mit dem NS-Regime kollaboriert hat. So werden die Nöte und Zwänge deutlich, mit denen ein Künstler in einem totalitären System zwangsläufig konfrontiert ist. Zwar gab es durchaus Erfolge für Orff in dieser Zeit, etwa die Uraufführung seiner "Carmina Burana", die Kritiken waren aber nie nur positiv. Vielmehr warf man ihm "Volksfremdheit" und "Unverständlichkeit" vor. Zugeständnisse an die Nazis habe Orff kaum gemacht – mit zwei Ausnahmen: die Mitwirkung an einer Komposition für die Olympiade 1936 und seine "Sommernachtstraum"-Musik als Ersatz für die verbotene von Mendelssohn-Bartholdy. Letzteres kreidet Rathkolb Orff zurecht als großen Fehler gegenüber einem menschenverachtenden System an. Daraus aber eine enge Verbindung oder gar Sympathie mit dem Nazi-Regime abzuleiten, hält er jedoch für unrichtig.

Politisch berechnend, aber kein Nazi

Rathkolbs nachvollziehbares Fazit lautet daher: "Bis zu einem gewissen Grad konnte Orff politisch berechnend sein. Orff verteidigte auch nach 1945 vehement die Illusion der Autonomie der Kunst während des totalitären NS Regimes. Er wollte diesen Verdrängungsvorgang Zeit seines Lebens nicht einsehen."

Infos zum Buch

Oliver Rathkolb:
Carl Orff und der Nationalsozialismus
Schott Music, 2022
281 Seiten, gebunden
39,00 Euro
29,99 Euro (E-Book)

Sendung: "Allegro" am 30. August 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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