Am 6. September wird Bernard Haitink zum letzten Mal ein Orchesterkonzert leiten. Wenn die Wiener Philharmoniker in Luzern den letzten Takt von Anton Bruckners 7. Symphonie gespielt haben werden, geht eine einmalige Karriere zu Ende. Der niederländische Dirigent Bernard Haitink, der am 4. März seinen 90. Geburtstag feierte, hat alles erreicht, was man in seiner Zunft erreichen kann. Die beiden Journalisten Peter Hagmann und Erich Singer haben kurz vor Haitinks Abschied nun ein Buch über den Dirigenten veröffentlicht – mit Gesprächen und Essays.
Bildquelle: Bärenreiter / Henschel
Der Buch-Tipp zum Anhören
Bernard Haitink ist unter den großen Dirigenten unserer Zeit einer der bescheidensten und zurückhaltendsten. Die große Geste, die eitle Selbstinszenierung sind ihm fremd. Und doch hat Haitink im Lauf seiner Karriere einige der bedeutendsten Positionen des Musikbetriebs bekleidet, wie die musikalische Leitung des Glyndebourne-Festivals, die des Royal Opera Houses Covent Garden in London, des Amsterdamer Concertgebouw-Orchestra oder des London Philharmonic Orchestra. "Von Anfang an war ich allergisch gegen das Wort 'Macht' und ich bin es nach wie vor", sagt Haitink. "Das Dirigieren, so finde ich, soll keine Machtausübung sein, es soll Musizieren sein, es soll Motivieren sein. Wenn ich mich als Diktator fühle, was mir schon von meinem Wesen her fremd ist, kann ich mit einem Orchester nicht arbeiten."
Von Anfang an war ich allergisch gegen das Wort 'Macht' und ich bin es nach wie vor.
Im dem Porträt-Buch von Peter Hagmann und Erich Singer über Bernard Haitink, in dem sich Gespräche mit klugen und einfühlsamen Essays abwechseln, wird schnell deutlich, worin die Qualitäten dieses Dirigenten jenseits des rein Musikalischen liegen – in seiner Fähigkeit, Beziehungen zu den Musikern aufzubauen, sie ernst zu nehmen, sich auf sie einzulassen: "Ich bin nun einmal nicht einer, der kommt und sagt, so ist es, anders geht es nicht. Es geht immer wieder anders, jedes Orchester ist verschieden, jeder Saal ist verschieden, auch ich als Mensch bin immer wieder anders. Das ist für mich das Wunderbare."
Bernard Haitink | Bildquelle: Clive Barda Als Bernard Haitink seine Karriere 1964 als 32-Jähriger Chefdirigent beim Concertgebouw Orchestra begonnen hatte, war diese Haltung unter Dirigenten noch selten. Und Haitink hatte mit seiner zurückhaltenden Art natürlich auch nicht nur Erfolg. Vor allem nicht in der Auseinandersetzung mit den administrativen Leitern von Orchestern. Da zog er mitunter den Kürzeren trotz seines Renommees, wie im Fall des Concertgebouw Orchestra, wie Erich Singer schreibt: "Als Haitink die Augen aufgingen, war es zu spät. Er sah sich plötzlich allein, ohne Unterstützung. Sein Charakter war den Intrigen nicht gewachsen."
Dabei war und ist Bernard Haitink durchaus eine eigenwillige Persönlichkeit. Manche verlockende Leitungsposition bei einem Orchester oder einem Festival hat er ausgeschlagen, weil sich in ihm Widerstände regten. Etwa die Chefposition bei einem amerikanischen Orchester: "Ich wollte es auf gar keinen Fall, erinnert sich Haitink. "Ein amerikanischer Music Director kann kein vernünftiges Leben führen. Dem Musizieren gehört nur etwa ein Drittel seiner Zeit, zur Hauptsache muss er sich um die Sponsoren kümmern, Kontakte pflegen, an Gesellschaften teilnehmen."
Auch die Bayreuther Festspiele seien für ihn keine Option gewesen, erzählt Haitink freimütig. Nach einem kurzen Besuch auf dem Grünen Hügel sei ihm das klargeworden: "Die ganze Atmosphäre in Bayreuth behagte mir nicht. Im Grunde war es ein furchtbares Erlebnis. Es kam in mir ein eigenartiges, kaum beschreibbares Unbehagen auf. Ich fühlte mich auf dem Grünen Hügel einfach nicht wohl."
Dirigieren heißt: musizieren, kommunizieren – mit Musikern, mit Menschen.
Neben manch tiefgründigen Einsichten in musikalische Detailfragen – etwa zu den Symphonien Anton Bruckners – sind es vor allem die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der Haitink über viele Erscheinungen des Musikbetriebs spricht, die das Buch von Hagmann und Singer interessant machen. Davon können nicht zuletzt auch Nachwuchsdirigenten manches lernen. Denn Dirigieren könne man ohnehin nicht lernen, so Haitink: "Dirigieren heißt: musizieren, kommunizieren – mit Musikern, mit Menschen. Mehr ist nicht zu sagen. Dirigieren ist ein Rätsel."
Peter Hagmann / Erich Singer:
"Bernard Haitink – Dirigieren ist ein Rätsel"
Gespräche und Essays
Bärenreiter / Henschel, Kassel 2019
184 Seiten inkl. Bildteil
Preis: 24,95 Euro
Sendung: "Allegro" am 19. August 2019 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK