An den Fingern einer Hand lässt sich abzählen, wer Mozarts mitreißendes Jugendwerk "Mitridate, re di Ponto" bisher eingespielt hat. Es gibt Gesamtaufnahmen der Dirigenten Leopold Hager und Roger Norrington, Christophe Rousset und Ian Page. Jetzt legt Marc Minkowski nach, und er präsentiert außer seinem bewährten Ensemble Les Musiciens du Louvre auch eine hochinteressante Besetzungsliste.
Bildquelle: Erato / Warner Classics
Der CD-Tipp zum Anhören
Es weihnachtet sehr. Zur Eröffnung der Saison 1770/71 kommt am Mailänder Teatro Regio Ducale die erste opera seria von Wolfgang Amadeus Mozart heraus: "Viva il Maestrino" rufen die Leute dem gerade mal 14-jährigen zu. Das Bühnengeschehen der Oper "Mitridate" über den einstigen König von Pontus führt das Publikum ins letzte Jahrhundert vor Christi Geburt. In einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, Ninfea, werden die Brüder Sifare und Farnace zu Rivalen. Sie lieben Aspasia, und zu allem Überfluss ist die Dame mit dem Vater der beiden verlobt - Mitridate. So schiebt sich vor den Kampf gegen Rom ein häuslicher Krieg. Er endet mit dem Tod des Herrschers. Hier wird er von Michael Spyres verkörpert. Der bestätigt seine Fähigkeit, Stimmregister mit der größten Gelassenheit zu wechseln. Und überhaupt: Was für ein schönes Timbre!
Das damals beliebte, von Racine inspirierte Libretto bietet die gattungstypische Mischung aus Liebesintrige und Staatshandlung. Die Figuren sind hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Neigung. Mozart verarbeitet hier viel vom Konflikt mit seinem Vater. Vielleicht ist seine Charakterzeichnung deshalb so glaubwürdig. Das gilt vor allem für die weibliche Hauptrolle, Aspasia. Auch sie reibt sich auf zwischen Wollen und Sollen.
Eine Frau, die Krallen zeigt. Dem überbordenden Temperament der Aspasia wird Julie Fuchs voll und ganz gerecht. Aber auch ihrer Innigkeit, mit der Mozart die andere, ebenso wichtige Seite der Figur ausleuchtet. Den Augenblicken, wo der Teenager über sich hinauswächst, stellt sich Julie Fuchs mit enorm persönlichkeitsstarker Souveränität. Und singt dabei bewegende Tonfolgen, die auf den Grund ihrer Seele blicken lassen
… Dieses Album hat gefehlt, weil …
… der hervorragende amerikanische Tenor Michael Spyres auf CD bisher nur mit romantischem Repertoire, nicht aber mit Mozart vertreten war.
Dieses Album wird lieben, wer …
… die größten Stärken des vielseitigen Pariser Dirigenten Marc Minkowski immer schon im Bereich der Oper gesehen hat.
Dieses Album führt bei Überdosis zu …
… der Überzeugung, dass niemand jemals im Alter von 14 Jahren so genial komponieren konnte wie Mozart – zumindest für Gesangsstimmen.
Unfassbar: Eine intrigante Hofclique wollte vor der Uraufführung alle Arien der Aspasia aus der Partitur werfen! Sie wollte sie durch Nummern aus der damals drei Jahre alten Vertonung des Stoffs durch einen gewissen Quirino Gasparini ersetzen. Zum Glück kam es anders. Denn schon der 14-jährige Mozart zeigt die Fähigkeit zu musikalischem Tiefgang, auch bei der Gestalt des Sifare. In einer seiner Szenen scheint es, als würde horngeprägtes Fernweh à la Schubert oder Weber aufblitzen. Ein halbes Jahrhundert, bevor es musikgeschichtlich soweit sein sollte…
Sifare und Farnace, die einstigen Kastratenrollen, sind hier mit Sopran einerseits, Countertenor andererseits besetzt. Beide machen ihre Sache gut, Elsa Dreisig wie auch der bislang kaum bekannte Paul-Antoine Bénos-Djian. Der Counter bringt vokal eine durchaus unverwechselbare Note ins agile Muskelspiel.
Mozart stand damals in Mailand ein für die Zeit ungewöhnlich großes Orchester zur Verfügung – sechzig Instrumentalisten. Daran knüpft der Dirigent der Neueinspielung an. Marc Minkowski erweitert sein Ensemble Les Musiciens du Louvre, lässt es dynamisch differenziert auftrumpfen und dabei die verschiedensten Farben ausbreiten, reich schattiert. Eine Spitzenproduktion, die nicht nur Mozartianer als "Muss" einstufen sollten.
Wolfgang Amadeus Mozart:
"Mitridate, re di Ponto"
Michael Spyres, Tenor – Mitridate
Julie Fuchs , Sopran – Aspasia
Elsa Dreisig, Sopran – Sifare
Paul-Antoine Bénos-Djian, Countertenor – Farnace
Sabine Devieilhe, Sopran – Ismene
Cyrille Dubois, Tenor – Marzio
Adriana Bignagni Lesca, Sopran – Arbate
Les Musiciens du Louvre
Leitung: Marc Minkowski
Label: Erato
Sendung: "Piazza" am 18. Dezember 2021 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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