Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin ist Chef der New Yorker Metropolitan Opera. Während der Pandemie wurde er kritisiert, weil er nicht genug für die Musikerinnen und Musiker gekämpft habe. Für das, was Nézet-Séguin künstlerisch macht, wird er dagegen ziemlich einhellig gelobt. Nun hat er für die Deutsche Grammophon alle Beethoven-Symphonien mit dem Chamber Orchestra of Europe eingespielt. Doch ist diese nur eine weitere – vielleicht überflüssige – Einspielung oder lohnt sie sich doch?
Bildquelle: Deutsche Grammophon
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Die Klassik hat ihre Rituale. Alle Jahre wieder erscheint eine neue Gesamteinspielung der neun Beethoven-Symphonien. Die dann unausweichlich zur Frage führt, ob das denn jetzt wirklich sein müsse. Schließlich wurden die doch schon so oft aufgenommen. Sogar beim gleichen Label, der Deutschen Grammophon, kam erst 2020 zum Beethoven-Jahr ein Zyklus aller Symphonien heraus, dirigiert von Nézet-Séguins etwa gleichaltrigem Kollegen Andris Nelsons – und diese Aufnahme war tatsächlich enttäuschend und komplett entbehrlich. Warum also schon wieder alle neune? Offenbar hat man beim Label diesen Rechtfertigungsdruck gespürt. Die neue Gesamteinspielung von Yannick Nézet-Séguin mit dem Chamber Orchestra of Europe wirbt denn auch offensiv damit, dass für die Neunte Symphonie erstmals die Neue Beethoven-Gesamtausgabe verwendet wurde. Macht das wirklich einen so großen Unterschied?
Nun denn. Am deutlichsten hörbar ist wohl, dass nach den neuesten Erkenntnissen der Musikwissenschaft auch das Kontrafagott mitspielen sollte, wenn die berühmte Melodie von "Freude schöner Götterfunken" zum ersten Mal angestimmt wird. Das klingt schön – aber, seien wir ehrlich, diese zweifellos sorgfältig erforschte und vermutlich gut begründete editorische Entscheidung führt dann doch nicht zwingend zu einer grundlegenden Neubewertung eines der berühmtesten Werke der Musikgeschichte. Das heißt nicht, dass diese Forschung unwichtig wäre. Doch über den künstlerischen Wert einer Einspielung besagt das verwendete Notenmaterial noch relativ wenig. Was da steht, mag jetzt in einigen Details genauer Beethovens Absicht entsprechen. Aber wie diese rätselhaften Zeichen zu lesen sind – diese Frage überlagert alle anderen. Und diese Entscheidung bleibt immer beim Dirigenten.
Da ist zum Beispiel der Beginn der Fünften. Vier Töne, jeder kennt sie, aber wie soll man sie spielen? Über dem vierten Ton steht eine sogenannte Fermate. Ein Innehalten also. Aber muss man das wohl berühmteste Motiv der Musikgeschichte deshalb in schwerfälligen, schicksalsschwangeren Pfundsnoten spielen, wie man das früher gern machte? Oder sollte man dieses sogenannte Schicksalsmotiv nicht vielmehr genauso schnell spielen wie den darauffolgenden Satz? Yannick Nézet-Séguin tut es. In seiner Interpretation signalisiert die Fermate kein pathetisches Ausrufezeichen, sondern nur ein ganz kurzes Atemholen.
Bei Nézet-Séguin ist Beethoven zugleich leicht und energiegeladen. Der Eindruck der Leichtigkeit kommt von den schnellen Tempi, der Vermeidung von düsterem Pathos und dem schlanken Klang der Streicher. Darin ist Nézet-Séguin unüberhörbar von der historischen Aufführungspraxis beeinflusst. Die herausragenden Musikerinnen und Musiker des Chamber Orchestra of Europe spielen jedoch nicht auf historischen Instrumenten. Sie übernehmen aber deren Klangbild. Das betrifft vor allem die starke Präsenz der Bläser und der Pauke. Das gibt dem Klang Schärfe, Attacke und enorme Energie. Die Leichtigkeit im Klang führt also keineswegs zu einer Verharmlosung. Im Gegenteil.
In vielem erinnert Nézet-Séguins Interpretation damit an die epochale Gesamteinspielung von Paavo Järvi. Doch Nézet-Séguin ist etwas weniger stur. Sein Beethoven geht nicht ständig mit dem Kopf durch die Wand, er kennt auch Eleganz, Geschmeidigkeit und vor allem spielerische Freude an der Bewegung.
Viele wunderbare Details werden hörbar, Mittelstimmen, aufregende Begleitfiguren, Klangfarben. Die Durchsichtigkeit gibt dem Orchesterklang Tiefenschärfe, zumal diese Einspielung auch aufnahmetechnisch sehr gelungen ist. Nur gelegentlich wünscht man sich, dass Melodie-Linien von den Streichern intensiver gesungen werden. Da nimmt das Ideal des schlanken Klangs der Musik manchmal ein bisschen was von ihrer Innigkeit im Ausdruck. Aber dafür gibt es ja genug andere Einspielungen. Diese zählt zweifellos zu den gelungensten der letzten Jahre. Noch ein Beethoven-Zyklus – musste das sein? Natürlich nicht, aber wenn, dann bitte unbedingt in dieser herausragenden Qualität und Frische.
Ludwig van Beethoven:
"Beethoven: Die Symphonien"
Chamber Orchestra of Europe
Leitung: Yannick Nézet-Séguin
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Piazza" am 13. August 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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