Vom Barock in die Romantik - er geht seinen Weg durch die Operngeschichte konsequent weiter. Der Dirigent René Jacobs legt nach 2017, wo er Beethovens "Leonore" (die "Fidelio"-Urfassung) auf CD herausbrachte, jetzt tatsächlich als nächstes Webers "Freischütz" vor. Historisch folgerichtig. Dabei wartet Jacobs nicht nur mit einer hochinteressanten Sängercrew auf, sondern editorisch auch mit einer faustdicken Überraschung.
Bildquelle: Harmonia Mundi
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Fragt man einen Opernfan danach, welcher Komponist sein populärstes Werk nach der Ouvertüre mit der Arie eines Eremiten startet – man erntet Achselzucken. Denn Opernfans wissen: Webers "Freischütz" hat einen Eremiten im Personal, aber erst ganz am Schluss. In der Neueinspielung des Dirigenten René Jacobs ist das anders.
Typisch Jacobs: Er hat es genau genommen mit der Quellenlage. Was im "Freischütz" als Vorgeschichte der Bühnenhandlung gilt, nimmt hier musikalisch Gestalt an. Der originale Beginn des Librettos von Friedrich Kind sieht Arie und Duett vor. Jacobs traut sich: Die durch Weber ignorierten Verse kombiniert er mit Musik, die an anderen Stellen der Oper erklingt. Zwischen Ouvertüre und Eingangs-Chor vergehen so ganz plötzlich fünf Minuten, die es in keiner der vielen anderen "Freischütz"-Aufnahmen gibt. Und siehe da: Dramaturgisch wirkt das Finale der Oper verständlicher als sonst. Plausibel lösen sich die Konflikte des Geschehens.
Dieses Album hat gefehlt, weil …
… das heikle Finale von Webers "Freischütz" durch eine gravierende Ergänzung des Dirigenten René Jacobs zu Beginn der Oper plötzlich plausibel wird.
Dieses Album birgt einen Lerneffekt, weil …
… man die Diskografie eines Repertoirestücks, und sei sie noch so üppig, niemals für "abgeschlossen" halten sollte – es gibt hier einen überraschenden, völlig neuen Impuls.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… von allen Beteiligten mit der größten Frische und wirklich schlank musiziert wird – von Seiten der mitreißenden Sängerinnen und Sänger wie auch des Orchesters.
Eine wirklich gute Besetzung ist im "Freischütz" nicht immer am Start – hier schon. Tenor und Bass punkten beide, Maximilian Schmitt als schlanker Max, Bassist Dimitry Ivashchenko als abgründiger Kaspar. Welche der Sopranistinnen man lieber mag, Polina Pasztircsák in der Rolle der Agathe oder Kateryna Kasper als Ännchen, ist wie so oft eine Frage des persönlichen Geschmacks. Ein musikalisch hohes Gestaltungsniveau bieten beide.
Es wäre unfair, in diesem Fall den sonst fast nebensächlichen Eremiten zu übergehen: Christian Immler steigt mit warmer Stimme und angemessenem Nachdruck in den Ring. Es ist aber auch die Aufwertung Samiels, um die sich die Aufnahme verdient macht. Das personifizierte Böse, hier der Schauspieler Max Urlacher, nutzt die Chance zur Profilierung. Mit Hörspiel-Ambitionen kommen fantasievoll geführte Dialoge und enorme Sound-Effekte daher. Und das Freiburger Barockorchester spielt so farbig und energetisch, als hätte es schon immer davon geträumt, sich einmal in der Romantik austoben zu dürfen.
Carl Maria von Weber:
"Der Freischütz"
Polina Pasztircsák, Sopran – Agathe
Kateryna Kasper, Sopran – Ännchen
Maximilian Schmitt, Tenor – Max
Dimitry Ivashchenko, Bass – Kaspar
Christian Immler, Bass – Eremit
Max Urlacher, Sprecher – Samiel
Zürcher Sing-Akademie
Freiburger Barockorchester
Leitung: René Jacobs
Label: Harmonia Mundi
Sendung: "Piazza" am 21. Mai 2022 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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