Die Szene ist filmreif – und sie wurde höchst eindrucksvoll verfilmt: Im Sommer 1791 kommt ein "grauer Bote" zu Mozart und bestellt eine Totenmesse. Sein Auftraggeber: "Ein Mann, der nicht gekannt sein will". Wer das in Milos Formans Film "Amadeus" gesehen hat, wird es nicht mehr vergessen. Nun ist eine neue Einspielung von Mozarts unvollendetem und sagenumwobenem "Requiem" erschienen. Sie stammt von dem französischen Originalklang-Dirigenten Raphaël Pichon.
Bildquelle: Harmonia Mundi
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Ein Fragment weckt die Fantasie, weil es so viele Fragen stellt. Wie hätte das vollendete Werk geklungen? Ist das Bruchstückhafte nur etwas Zufälliges? Oder steckt eine tiefere Bedeutung dahinter? Mozarts Requiem bleibt ein Rätsel. Mit nur 35 Jahren starb er – ausgerechnet während der Komposition einer Totenmesse. Manche Fragen lassen sich klären. Etwa, wer der geheimnisvolle anonyme Auftraggeber war (es war ein exzentrischer Graf, der offenbar so tun wollte, als hätte er selbst das Werk komponiert). Doch die meisten Fragen bleiben offen. Nicht zuletzt eine der wichtigsten, die man an ein so kurzes Leben stellen kann: Woran verstarb Wolfgang Amadeus Mozart? Wir wissen es nicht.
Sicher ist: Nur etwa zwei Drittel von dem, was als Mozarts Requiem gesungen und gespielt wird, stammt von Mozart selbst. Der Rest wurde von zwei seiner Schüler ergänzt. Ehrgeizige Dirigenten versuchen sich gern daran, aus dem Fragment etwas Vollendetes zu machen. Man kombiniert verschiedene Ergänzungen, will aus Mozarts Skizzen noch mehr herausholen, um auf irgendeine Weise dem imaginären Werk näher zu kommen, das Mozart geschrieben hätte.
Raphaël Pichon wählt den entgegengesetzten Weg. In seinem neuen Album versucht er gar nicht erst, das Fragmentarische von Mozarts Requiem notdürftig zu verstecken, sondern er konzentriert sich darauf. In die Partitur des Requiems schiebt Pichon andere Fragmente von Mozart ein. Oder unbekannte, scheinbar entlegene Werke, die sich mit dem Thema Tod auseinandersetzen. Etwa einen verblüffenden Kanon auf den Text "Ach, zu kurz ist unser Lebenslauf" (KV 228).
Tatsächlich hat sich Mozart sein ganzes, kurzes Leben lang intensiv mit dem Gedanken auseinandergesetzt, "dass ich vielleicht, so jung als ich bin, den andern Tag nicht mehr sein werde. Und doch," so heißt es in einem Brief an den Vater, "wird kein Mensch, von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre." Mozarts sehr spezieller Humor ist ja legendär. Auch seine Musik wechselt von einer Sekunde auf die andere von übermütiger Heiterkeit zu tiefer Melancholie. Für ihn gehörte das alles zusammen: die Leichtigkeit und der Tiefsinn, die Trauer und der Trost.
Raphaël Pichon macht diese emotionale Vielschichtigkeit auf beispielhafte Weise hörbar. Mit Verve beschwört er im "Dies irae" Furcht und Wut. Tief berührend antwortet darauf die Bitte um Schonung im "Salva me". Die technische Brillanz seines "Ensemble Pygmalion" und der exzellenten Solisten erschöpft sich nie im Schönklang, sondern zielt kompromisslos auf Ausdruck. Und die klug ausgewählten Einschübe in diesem Konzeptalbum lenken den Scheinwerfer auf die Bruchstellen.
Nein, es steckt natürlich keine tiefere Bedeutung dahinter, es war Zufall, dass Mozart ausgerechnet während der Komposition an diesem Werk verstarb. Aber wie jedes Fragment stellt auch dieses Fragen, die uns nicht loslassen. Weil sie immer offen bleiben werden. Gerade weil Pichon gar nicht erst versucht, sie zu beantworten, gelingt es ihm, sie auf besonders überzeugende Weise zu stellen.
Wolfgang Amadeus Mozart:
Requiem d-Moll, KV 626
Ensemble Pygmalion
Leitung: Raphael Pichon
Label: Harmonia Mundi
Sendung: "Piazza" am 19. Oktober 2024 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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