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Album der Woche – "Reich/Richter" Ein jugendliches Alterswerk

"Reich/Richter" – der Titel ist Programm. Denn die neue CD mit dem Ensemble Intercontemporain bringt zwei prominente Künstler zusammen: Gerhard Richter, einen der profiliertesten und gefragtesten Maler der Gegenwart. Und Steve Reich, den Altmeister der Minimal Music. Die Kombination funktioniert!

Bildquelle: Nonesuch

Der CD-Tipp zum Anhören

Ein Pulsieren, ein Rufen, ein Sog. Vom ersten Ton an zieht einen diese Musik in ihren Bann, macht imaginäre Räume auf, hypnotisiert. Sie ist ruhig und bewegt zugleich. Aufwühlend und entspannend. Abstrakt und dabei zutiefst emotional.

Erinnerung an die Anfänge

Steve Reich, der Vater der Minimal Music, ist zurück. Und am Anfang klingt es, als wäre er wieder ganz der Alte: melancholisch und meditativ, so wie man ihn aus den 70ern kennt. In den letzten Jahren war seine Musik eigentlich härter, kantiger, dissonanter geworden. Er hatte aus den Songs der Popband Radiohead Avantgarde gemacht und aus Sprach-Samples komplexe musikalische Bauwerke konstruiert. Aber nun erinnern schon die klöppelnden Klaviere und Vibraphone, der mollige Sound von Holzbläsern und Streichern, an Reichs Anfänge, an die legendäre "Music for 18 Musicians". Hier wie dort gibt es kurze Motive, die im Fluss der Klänge nach oben steigen und wieder absinken.

Gemälde, Film, Musik

Die Rückkehr zu den Anfängen, zum Spiel mit kleinen Motivzellen: Dazu hat ihn Gerhard Richter inspiriert. In seinem Buch " Patterns" scannt Deutschlands berühmtester Künstler eines seiner Gemälde, um es dann zu teilen und dabei zu spiegeln, immer weiter und weiter: in zwei Teile, vier, acht, bis es schließlich in 4096 Mosaiksteinchen aufgelöst ist und sich das abstrakte Bild erst in menschenähnliche Figuren und schließlich in dünne bunte Streifen verwandelt hat. Die Videokünstlerin Corinna Belz hat daraus einen Film aus flirrenden Farben und Formen gemacht. Und Reichs Stück ist die Begleitmusik dazu.

Kurz und bündig

Dieses Album wird lieben, wer …
… sich für moderne Kunst begeistert – oder einfach nur für gute Musik.

Dieses Album hat gefehlt, weil …
… es eines der schon jetzt erfolgreichsten Stücke von Steve Reich (mehrere hundert Aufführungen in nur drei Jahren) erstmals auf CD zugänglich macht.

Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… es das Beste vom frühen Steve Reich mit dem Besten vom späten Steve Reich verbindet: die hypnotische Sogwirkung und die ausgeklügelte Konstruktion, die Leichtigkeit und die Kantigkeit.

Legobausteine aus zwei Sechzehntel-Noten

Den Film sieht man auf der CD leider nicht, aber Reichs Musik kann auch für sich bestehen. Wie Richter und Belz geht auch er von ganz einfachen Elementen aus, sozusagen von Legobausteinen aus zwei Sechzehntel-Noten, um daraus sein musikalisches Gebäude zu bauen. Mit der Zeit werden die Legosteine länger, die Architektur komplexer, die Harmonik herber.

Das Pulsieren kommt zum Stillstand

Nach und nach, fast ohne dass man es bemerkt, kommt das Pulsieren zum Stillstand, dehnt sich die Zeit, eröffnet sich eine ganz neue Welt: wie ein Blick durchs Mikroskop, wie ein Abtauchen in ein Meer aus Traum und Trance.

Aus den Tiefen des Unterbewusstseins

Gerade diese langsamen Passagen gelingen dem Ensemble Intercontemporain unter George Jackson besonders intensiv. Und wenn das Stück dann wieder auftaucht aus den Tiefen des Unterbewusstseins, wenn es wieder zu pulsieren beginnt, wenn Steve Reich am Ende, nach gut einer halben Stunde, zurückkehrt zu den kleinen Legobausteinen des Anfangs, dann kann man nur den Hut ziehen vor dem Fünfundachtzigjährigen mit der Baseballkappe. Denn mit " Reich/Richter" ist ihm etwas Besonderes geglückt: ein jugendliches Alterswerk.

Infos zur CD

Steve Reich:
"Reich / Richter"
Ensemble Intercontemporain
Leitung: George Jackson

Label: Nonesuch

Sendung: "Piazza" am 9. Juli 2022 um 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (2)

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Montag, 11.Juli, 11:53 Uhr

kdm

Steve Reich

In den frühen Siebzigern war Reich für mich ein sehr interessanter Neuling. Und ich war unterstützender Fan (hab mal einen Umzug für ihn gemacht, und auch bei Bachauers Meta Musik Festival '74 & '76 mitgearbeitet; erinnere noch gut das befreiende, lustige Ende von "Music fpr 18 Musicians" als einer der Rhythmiker am Ende des Stückes versehentlich noch einen singulären zusätzlichen Ton klöppelte).
.
Inzwischen hör' ich doch lieber anderes, da er - Reich - immer noch & immer wieder (nur) das Gleiche macht. Soll er, darf er. Aber ich hör' nicht mehr hin.

Sonntag, 10.Juli, 08:01 Uhr

Gerd Dollhopf

Es hat mich gepackt

Bravo Herr Preuss! Was für ein umwerfender Beitrag!
Auch als völlig Artfremder kann man die Logik und die Emotionalität der Bilder, der Musik und vielleicht auch des Filmes nachvollziehen und sich geradezu perfekt einfühlen.
Ich hörte den Artikel gestern beim autofahren und war so begeistert dass ich ihn heute nochmals aufgerufen habe. Dieser Artikel ist eine Komposition die man Reichs und Richter zur Seite stellen kann.

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