Georges Aperghis wird 1945 in Athen geboren und studierte zunächst autodidaktisch Musik und Malerei. 1963 geht er nach Paris und lernt dort die wichtigen zeitgenössischen Komponisten kennen.
Bildquelle: Xavier Lambours
BR-KLASSIK: Georges Aperghis, zahlreiche Werke der Sparte „Musiktheater“, einer Gattung, deren Initiator Sie in Frankreich sind, durchziehen ihre schöpferische Laufbahn. Doch ist dies nur ein Teil ihrer Arbeit.
Georges Aperghis: Richtig. Diese enggefasste Kenntnis meines Werdegangs ist auf eine gewisse Trägheit der Einstufung zurückzuführen. Es stimmt, ich habe zahlreiche Bühnenmusikstücke komponiert, doch meine Arbeit war immer begleitet vom Schreiben von Instrumentalmusik und Konzertstücken, seltener auch von Orchesterstücken. Auch in meinen frühen Werken ist all das, was meine besondere Arbeitsweise ausmacht, wenn auch in anderer Form, bereits enthalten.
BR-KLASSIK: Wie etwa die Zärtlichkeit und das Element der Verschiebungen?
Aperghis: Ja, diese beiden Komponenten leiteten schon sehr früh mein kreatives Schaffen. Eine zärtliche Aufmerksamkeit für allgemein vernachlässigte, angeblich wertlose Klänge; für Ideen und Konzepte, für Material, das als nutzlos, flüchtig und steril galt, obwohl es teilweise faszinierende Funktionen entwickeln kann. Auch die Aufmerksamkeit für lächerliche und zerbrechliche Dinge, die durch eine dynamisierende Pulverisierung in ihre einzelnen Bestandteile zerplatzen, dadurch neue Wünsche, neue Formen von Ungeduld tränken. Eine Umlenkung der Ideen, Klänge und Dinge, die aus Gesellschaftlichem Intimes machen, aus Klanglichem Visuelles (man muss seine Synästhesie walten lassen!), aus Theater Konzert, aus Worten Musik, aus Gefühlen Humor. Diese Abweichungen, oft nur minimal, aber formbar und einschneidend zugleich, werden von Manchem als ästhetischer Barbarismus angesehen, als frevelhafte Transgressionen … Das war wirklich Subversion auf allen Ebenen!
BR-KLASSIK: Seltener begeben Sie sich auf das Feld des Orchesters. Ihre jüngst entstandenen Six Études pour grand orchestre (Sechs Etüden für großes Orchester) wecken demzufolge ein sehr reges Interesse. Warum haben Sie so lange damit gewartet?
Aperghis: 1972 hatte ich ein erstes Stück für großes Orchester verfasst. Die Wände haben Ohren wurde bei der Uraufführung im Rahmen des Internationalen Treffens zeitgenössischer Musik in Metz von Hans Zender mit erfrischender Strenge interpretiert. Es folgten weitere Versuche, die alle katastrophal endeten – ungeeigneter Dirigent, Zeitmangel … − kurzum, ich hatte es aufgegeben, für große Orchester zu komponieren. 2012 bekam ich ein Angebot, erneut für Orchester zu schreiben. Die vier ersten Études pour orchestre nahmen Form an. Ein Jahr später wurden sie in Köln vom WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Emilio Pomàrico uraufgeführt. Schließlich regte mich ein Auftrag der musica viva für März 2015 dazu an, zwei weitere Etüden zu schreiben.
BR-KLASSIK: Etüden für andere, wie Liszt oder Ligeti? Oder Etüden für Sie selbst?
Intensität und Präzision liegen eng beieinander
Aperghis: Für mich. Ich bin derjenige, der studiert, der übt. Ich versuche, das Orchester anders klingen zu lassen, auf meine Art. Ich will das Orchester abspecken, es von aller Dramaturgie, von allem Narrativem, vom postromantischen Pathos befreien, der immer lauert, wenn ich für Orchester komponiere. Daher auch die kurzen Stücke, zwischen 3 und 10 Minuten lang, auf Farben basierende Klangmaterie. Diese äußerst dichten Klangpfade − Intensität und Präzision liegen eng beieinander − erfordern das Orchester. Die sechs Etüden sind sechs unterschiedliche Arten, dieses Klangmaterial zum Leben zu bringen (als sähe man sechsmal das Gleiche aus unterschiedlichen Kamerawinkeln aufgenommen), bis zur Erschöpfung. Wenn man eine Idee ausgespielt hat, ihr sozusagen aus allen akustischen Winkeln heraus eine Form gegeben hat, wenn sie keinen Widerstand mehr bietet, ihren Lebenshöhepunkt durchlebt hat, geht man zur nächsten über. Auch die Musiker erleben unermessliche Momente, setzen zarte Tupfer, führen kleine Polyphonie- Stückchen aus… Sie müssen rhythmisch extrem genau spielen, was umso schwieriger ist, da ihnen der Gesamtüberblick über dieses mit leuchtenden Momenten durchsetzte, mit Klangintarsien ausgelegte Stück fehlt. Sie müssen völlig ungewohnte Reflexe erlernen.
BR-KLASSIK: Man findet also im Orchester ihre unverwüstliche Zärtlichkeit für alles, was nur an einem seidenen Faden hängt, für die unbeschreibliche Verletzbarkeit …
Aperghis: Durchaus, und dabei praktiziere ich weiterhin eine allgemeine Umleitungsoperation! Es geht immer darum, eine Emotion zu zünden, eine Ordnung zu stören, eine Struktur ins Wanken zu bringen mit minimalen Abweichungen, Streuungen, Verdrehungen und Zersplitterungen, Fehlzündungen oder Brüchen. So müsste die Wirklichkeit und das Bild, das wir von ihr haben, Risse bekommen, der Zuhörer würde sich, oft mit Schrecken, in einer fragmentierten Welt wiederfinden; dann endlich würde er an Vernunft und Logik zweifeln, sofern er sich denn auf dieses Spiel einlässt. Der unermüdlich aktive Hörsinn würde in diese (selbst mir!) verborgenen Räume eindringen, die ihre eigene Geschichte erzählen. Ist seine Fantasie erst einmal befeuert, würde der Zuhörer in einen Wald von Akkorden gelangen, die sich ihm offenbaren, entlang eines Pfades voller schwerer und gewaltiger Klänge, oder solcher, die leicht wie Flammen sprühen. Allein, damit sich der Genuss klarer abzeichnet, muss man dem auflauern was passiert.
Das Interview führte für BR-KLASSIK Jean-Noël von der Weid.