"Das Klassikpublikum stirbt aus“. Die Münchner Autorin Eva Gesine Baur ("Mozart - Genius und Eros“) glaubt einer Studie und rechnet in einem Jugendkonzert mit leeren Sitzreihen. Was sie stattdessen erlebt, schildert sie in ihrer Kolumne für br-klassik.de.
Bildquelle: picture-alliance/dpa
Ohne Karte, aber voller Zuversicht machte ich mich vor drei Wochen, am 14. Dezember, auf den Weg in den Münchner Gasteig. Ich war siegessicher, mühelos einen Platz zu bekommen; weniger wegen des weihnachtsunzeitgemäßen Programms mit Skrjabins "Poème de l’Extase" und Rachmaninows drittem Klavierkonzert, vielmehr wegen meiner morgendliche Lektüre. Das deutsche Klassikpublikum sterbe aus, hatte ein Kulturwissenschaftler als Ergebnis seiner aktuellen Forschungsstudie verkündet. Der zufolge interessiert sich die Jugend für klassische Musik so lebhaft wie für Biedermeiersofas. Das Konzert am Abend war angekündigt als "1. Jugendkonzert der Saison". Na also.
Die Studie hatte außerdem herausgefunden, dass Klassik nur noch als "classic to go" ein junges Publikum erreiche, aufgesüßt und bequem zu konsumieren, Reste mühelos zu entsorgen. Folglich schien mir das extrem lange und zudem notenreichste Klavierkonzert auf dem Programm eine eingebaute Jugendsicherung zu sein. Klassikstar der Jungen könne nur noch einer wie David Garret werden, hatte ich gelesen. Doch hier war Daniil Trifonov in bravem Anzug angekündigt, der mit Anfang Zwanzig statt eigenem Parfum und T-Shirt-Label nur ein paar gewonnene Wettbewerbe bieten kann und bekennende Kompromisslosigkeit. Horowitz mit anderen Mitteln, also ebenfalls jugendsicher. Nach eineinhalb Stunden vergeblichen Anstehens vor der Abendkasse bescherte mir nur der Zufall noch ein Ticket.
Meiner morgendlichen Lektüre zufolge hätte nun mindestens die Hälfte der 2400 Plätze mit Pensionären besetzt sein müssen, die den Veranstalter vor der Peinlichkeit bewahrten, für ihren wirklichkeitsblinde Zukunftsoptimismus mit einem halbleeren Saal bestraft zu werden. Doch saßen dort fast nur Menschen, die meine Kinder hätten sein können, eine späte Erstgeburt vorausgesetzt. Was nun geschehen würde, erwartete ich trotz Trifonov am Klavier und Valery Gergiev am Pult mit innerer Unruhe. Die Jugend sei unfähig, wusste ich aus der aktuellen Studie, ein anspruchsvolles klassisches Konzert durchzustehen, weil sie bei abgedrehtem Informationszufluss an unerträglichen Entzugserscheinungen leide. Ich wartete also auf den Widerschein der Stimmungsaufheller in den jugendlichen Gesichtern, zumindest nach Verstummen des Moderators. Vergeblich. Das Publikum suchte keinerlei Fluchtwege und schaute nicht nach unten, sondern nach vorn. Erst als Gergiev den Stab senkte, wurde es so laut, als habe eine Kultband im Olympiastadion gespielt.
Macht es Euch unbequem!
"Sich selbst und dem Publikum alles abverlangen" - Daniil Trifonov am Klavier | Bildquelle: picture-alliance/dpa Was hatten die Veranstalter richtig gemacht? Das jugendliche Alter der Interpreten ist keine Garantie für jugendliches Publikum. Beim letzten Streichquartettabend im Herkulessaal kurz zuvor waren die Musiker zwar mehr als zwanzig Jahre jünger als ich gewesen, das Durchschnittsalter des Konzertpublikums jedoch hatte ich als über Fünfzigjährige erheblich gesenkt. Nur: Streichquartette waren nie Musik für die Generation U 21. Die wollte schon immer Stimmung, starke Emotionen und Sensationen, und denen sind zu viele Pensionisten im Saal ebenso wenig zuträglich wie filigrane Klänge. Der Jugend aber als Alternative Klassik mit Sirup zu servieren, ist eine Idee von Menschen im Alter der Streichquartettbesucher. Die haben schließlich Starbucks gegründet und David Garrett zum André Rieux ihrer Enkelgeneration aufgebaut.
Hier hatte ein junger Pianist sich selbst und dem Publikum alles abverlangt und das Publikum spüren lassen: Das tut irre gut. Nicht nur die Leber wächst mit ihren Aufgaben; gefordert zu werden, fördert das Selbstvertrauen. In einem multimedialen Alltag, der von morgens bis nachts die Konzentration mit Ablenkungsangeboten sabotiert, ist es den meisten schwer möglich, sich ganz und gar auf etwas einzulassen und darüber alles andere zu vergessen, Raum und Zeit, Stress und Sorgen. Das jedoch ist der Kern jeder Glückserfahrung. "Empört Euch!", rief der über neunzigjährige Stéphane Hessel in einer radikalen Schrift den Jungen zu. Und sie hörten ihn. "Macht es Euch unbequem!", ruft der vierundzwanzigjährige Trifonov. Und sie hören zu. Erst recht, wenn sie unter sich sind und Störfaktoren wie ich eine kaum wahrnehmbare Minderheit.
Fragt sich nur, wer die Nachrichten vom Aussterben des Klassikpublikums gerne liest, sonst würden sie nicht alle Jahre wieder als aktuell serviert. Offenbar Menschen, die am Klassikbetrieb, sprich den eigenen Gewohnheiten und Sichtweisen, nichts ändern wollen. Ausstirbt, was sich nicht den Forderungen der Gegenwart stellt, undurchlässig und unbeweglich ist. Der Dinosaurier zum Beispiel. Zuviel Panzer, zu wenig Hirn. Dass es am Musikernachwuchs weltweit nirgendwo fehlt, liefert einen Hinweis, wo der Haken liegt. Die jungen Musiker verfügen über ein Selbstbewusstsein, das den Veranstaltern weitgehend fehlt. Für sie ist klassische Musik kein Luxus, sondern notwendig. Macht es euch unbequem - begraben wird die Klassik nur dort, wo sie kuschelweich gespült worden ist.
Eva Gesine Baur studierte Literaturwissenschaft, Psychologie, Kunstgeschichte und Musikwissenschaften. Sie hat zahlreiche Bücher über kulturgeschichtliche Themen und unter dem Namen Lea Singer mehrere Romane veröffentlicht. 2010 wurde ihr der Hannelore-Greve-Literaturpreis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der deutschsprachigen Literatur verliehen.
Werke (Auswahl):
Kommentare (5)
Montag, 18.Januar, 15:11 Uhr
Christoph Beyer
Klassik - nicht jugendfrei?
Ein mutmachender Artikel, der m.E. nach aber wenig Antworten auf die Frage gibt, was Auslöser dieses starken jugendlichen Zustroms zum Konzert war. Das Programm ist sicher spannend, Rachmaninoff 3 ein echter Hingucker und Scriabin sollte bei den Kennern sowieso "Kult" sein. Ein 24-jähriger Solist dürfte in einer Kultur- und Weltstadt auch Garant für gleichaltrige und jüngere Zuhörer sein. Waren zudem die Karten für Jugendliche (oder Junggebliebene) besonders billig? Oder war eines der Stücke Pflichtstück in den Abiturauflagen? Oder war Trifonov vorher durch die Münchner (Elite-)Gymnasien getourt - oder hatte er an den Hochschulen Termine gehabt? Gab es evtl. auch ein Handy-Verbot im Saal? Als Ursache zu nennen, dass die Jugend sich gerne herausfordern lässt, scheint mir eher eine schöngeistige Meta-Ebene zu bemühen. Es muss doch in starkem Maße mit zielgruppenorientiertem Marketing zu tun haben. Über mehr Ursachenforschung im Erlebnisbericht freut sich
C.Beyer
Samstag, 16.Januar, 01:06 Uhr
paquito
Und nicht zu vergessen die Chopin-Biographie!
Dienstag, 12.Januar, 10:34 Uhr
Gerald Mertens
Treffende Beobachtung zum Klassikpublikum
Sehr guter Beitrag! Man kann das ewiggestige Gerede vom "Tod der Klassik" im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung nicht mehr hören. Die Realität in immer mehr (leider längst noch nicht allen) Theater- und und Konzertsälen sieht inzwischen anders aus. Kinder-, Jugend- und Familienkonzerte sind inzwischen durch Angebote für Kleinkinder, Schwangere und Stillende durch und zahlreiche andere Formate erweitert worden. Laut der Konzertstatistik der Deutschen Orchestervereinigung haben sich die Musikvermittlungsangebote der deutschen Orchester seit 2003 bis heute verdoppelt. Das muss dann doch irgendwann mal Folgen haben.
Ergo: kann es etwas Ermutigerendes geben, als keine Karte mehr für ein Familienkonzert zu bekommen?
Montag, 11.Januar, 10:41 Uhr
Pensionist
Ein sehr wichtiger Artikel, und ausgezeichnet geschrieben, herzlichen Glueckwunsch!
Freitag, 08.Januar, 11:30 Uhr
Werner Häußner
Studie über Jugend und Klassik
Jetzt wär's halt noch schön zu erfahren, welche Studie von wem da gemeint ist. Bitte Roß und Reiter nennen!