BR-KLASSIK

Inhalt

Kolumne von Laszlo Molnar Sitzen? Stehen. Liegen!

Jahrzehnte lang habe ich mich durch Konzerte durchgesessen. Durch ganz großartige genauso wie für mich belanglose. In grandiosen Konzertsälen, historisch wie modern und in Scheunen oder Turnhallen. Aber egal was gespielt wurde und wo es stattfand: Das Ritual war und ist immer das gleiche. Vorne spielen die Musiker, im Saal sitzt das Publikum in engen Reihen und hält still. Mir gefällt das nicht mehr. Die Geschichte, Open Air Konzerte und bewusst alternative Veranstaltungen haben mir gezeigt, wie man klassische Musik lustvoller wahrnehmen und genießen kann.

Klassikpicknick beim Openair-Konzert in Nürnberg | Bildquelle: BR

Bildquelle: BR

Da ist sie wieder: die Zeit des entspannten Klassik-Hörens. Überall, wo klassische Musik gemacht wird, gibt es Konzerte unter freiem Himmel – jedenfalls in dem Sinn, dass die Zuhörer frei unterm Himmel sitzen, während die Musiker ein Dach zwischen sich und diesem Himmel haben. Es schützt nicht nur  vor möglichem Regen, es nützt auch der Akustik. Da soll keiner sagen, die Musiker seien Feiglinge. Für das Dach gibt es gute Gründe. Am BR-Standort München wurde soeben "Klassik am Odeonsplatz" gefeiert, am BR-Standort Nürnberg gibt es die Open-Air-Konzerte im Luitpoldhain; in Wien ziehen die Philharmoniker in den Park von Schloss Schönbrunn. In Berlin hört man die Philharmoniker in der Waldbühne, in New York das Philharmonic im Central Park. Alle freuen sich darauf, klassische Musik sozusagen textilfrei zu hören; ohne unterschwellige Kleiderordnung und an vielen Orten auch ohne Ess- und Trinkverbote, denn Picknickkörbe sind oft ausdrücklich erwünscht. Wir wissen zwar nicht was die klassische Musik dazu sagt – ihr wird ja prinzipiell ein großer Ernst unterstellt. Aber wir bemerken, dass sich auch die Musikerinnen und Musiker nicht diesen Aufführungsorten verweigern. Nein, Klassik "easy going" kommt bei allen Beteiligten gut an.

"Meistersinger" auf dem Sofa

Wie schön wäre es doch, wenn die Klassik auch im normalen Betrieb etwas gelassener geben könnte. Oft genug gefällt mir der Gedanke überhaupt nicht, wieder zwei Stunden regungslos im Saal und Sessel sitzen zu müssen. Ich habe zum Konzertbesuch ein gespaltenes Verhältnis entwickelt. Einerseits möchte ich die Musik gerne hören. Andererseits will ich mich frei bewegen können. Eines der schönsten Erlebnisse im vergangenen Jahr war das Anschauen der "Meistersinger von Nürnberg" bei den Bayreuther Festspielen 2017. Nämlich zu Hause. Vom Sofa aus auf einem großzügig dimensionierten Flachbildschirm. Mit dem Ton aus der Surround-Anlage. Mein Mitbewohner und ich fläzten uns auf dem Sofa, jeder mit einem Glas Wein, wir streckten die Beine aus, wir kommentierten lauthals die Inszenierung, ohne andere zu stören. Wir freuten uns, wir ärgerten uns, und dank der vielen Kameras waren wir so nah dran an der Handlung wie niemand der Besucher im Festspielhaus.

Inspiration für die Freuden des Lebens

Klassik Open Air Nürnberg 2018 | Bildquelle: © Julia Fleiner Klassik Open Air Nürnberg | Bildquelle: © Julia Fleiner Das soll jetzt nicht heißen, dass ich meine Karriere als Konzertbesucher beende und zur Musik nur noch auf dem Sofa surfen werden. Aber ich will es nicht hinnehmen, dass der Genuss klassischer Musik untrennbar mit den Kategorien Sitzen, Stillsein, sich nicht Bewegen verbunden sein soll. "Open Air" geht es doch auch. Wie oft steigt da ein Klassikfreund bei laufender Musik über einen anderen auf seinem Rasenlager drüber und muss nicht mit Lynchjustiz rechnen. Kein Solist bricht ab, wenn Handylichter, Feuerzeuge oder Wunderkerzen aufflammen. Kein Hörnachbar zischt laut auf, wenn man Freund oder Freundin etwas ins Ohr tuschelt. Die Hardliner meinen dazu, mit solchen Aktivitäten nebenbei werde die klassische Musik zu einer Klangkulisse oder -Tapete herabgewürdigt. Ich meine, sie dient so als Inspiration, die Freuden des Lebens bewusster wahrzunehmen und zu zelebrieren.

Freiheitsberaubung im Konzertsaal

Im Konzertsaal hingegen geht es zu wie in einem Gefängnis. Mit dem Kauf der Eintrittskarte erteilt der Musikfreund die Erlaubnis, für die Dauer der Werke seiner Freiheit beraubt zu werden. Wobei praktischerweise die Konzertbesucher Gefangene und Gefängniswärter zugleich sind. Jeder achtet darauf, dass die anderen, speziell die Nachbarn, nicht aus der Reihe tanzen – im wahrsten Sinn des Wortes.

Unterhaltung im doppelten Sinn

Gemälde von Peter Jacob Horemans (1700-1776) | Bildquelle: picture-alliance/dpa "Das Konzert im Garten". Gemälde von Peter Jacob Horemans | Bildquelle: picture-alliance/dpa Vor der Erfindung des Konzertsaals im 19. Jahrhundert war das so nicht gedacht. Darstellungen von Konzerten oder Opernaufführungen im 17. und 18. Jahrhundert zeigen immer Menschen, die in der Mitte des Raumes beim Zuhören stehen, dann solche, die sich in der Nähe der Türen aufhalten und miteinander reden. In den Logen scheinen bei laufender Musik lebhafte Gespräche stattzufinden. Die Besucher dort waren meist nur der Unterhaltung wegen gekommen. Im doppelten Sinn: Sie wollten von der Aufführung unterhalten werden und sie wollten sich selbst unterhalten, mit ihren Mitbesuchern nämlich. Schade, dass es aus diesen Zeiten keine Ton-Mitschnitte gibt. Ich wäre nur zu neugierig zu hören, welcher Geräuschpegel bei solchen Musikdarbietungen herrschte. Ich glaube auch nicht, dass Johann Sebastian Bach und seine Musiker im Zimmermann'schen Kaffeehaus in Leipzig nur von still zuhörenden Menschen umgeben waren. Auch ihre Auftritte waren als Unterhaltung der dort speisenden und zahlenden Gäste gedacht. Vielleicht sollten wir uns bei Bachs Cembalokonzerten immer ein authentisches Geschirrklappern dazudenken.

Kein Platz für Andersdenkende

Der Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft hat dem Musikhören nicht nur das eigene "Konzerthaus" mitgegeben. Es kam auch ein Verhaltenskodex dazu, den man als Terror wahrnehmen kann. Aufstehen: unmöglich. Etwas sagen: verboten. Vom gelegentlichen Blick aufs Handy (warum nicht bei bis zu fünf Stunden Aufführung) gar nicht zu reden. Hinausgehen: ausgeschlossen (es sei denn, man verliert das Bewusstsein und wird von hilfsbereiten Mitbesuchern hinausgeschleppt). In den meisten Konzerthäusern gibt es keinerlei Platz für Andersdenkende, mit einigen Ausnahmen: die wunderbaren Stehplätze im Großen Musikvereinssaal in Wien etwa oder die Galerie in der Royal Albert Hall in London. Etwas lockerer sind die Verhältnisse in historischen Opernhäusern. Da gibt es bei den Logen oft Vorräume (dort lassen sich nicht nur Mäntel ablegen, sondern auch Speisen und Champagner aufbauen) und, für die weniger Begüterten, die Stehplätze. Man muss ja nicht herumgehen. Man muss ja nicht sprechen. Aber man kann es.

Lauschen im Liegen

Warum mich das so beschäftigt? Weil ich Klassik auch schon ganz anders erlebt habe. Einmal besuchte ich ein Konzert der Henry Wood Promenade Concerts in der Royal Albert Hall in London. Nicht das berühmte "Last Night of the Proms", sondern eines mitten während des Festivals. John Eliot Gardiner führte etwas mit seinem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists auf, der Saal war voll, ich hatte einen Stehplatz im obersten Rang, und das stellte sich als Volltreffer heraus. Etliche Proms-Profis kamen entsprechend ausgerüstet zur Veranstaltung: mit Kissen und Decken. Denn die Stehplätze ließen sich auch als Liegeplätze nutzen. Mit ihrer Ausrüstung nahmen diese Profis alle dort möglichen bequemen Positionen ein; die einen saßen im Schneidersitz auf der Decke und lehnten, mit dem Kissen als Polster, gegen die Wand. Andere streckten sich aus und lauschten im Liegen. Richtig große Federkissen hatten sie dabei, nicht nur die kleinen Polsterdinger. Das Konzert habe ich als Gesamterlebnis in Erinnerung. Als Musik und Wohlbefinden im Einklang.

Subversives Symposion

Klangforum Wien | Bildquelle: Lukas Beck Das Klangforum Wien | Bildquelle: Lukas Beck Ähnlich Anarchisches hatten sich Wiener Musiker und Veranstalter einfallen lassen. Die subversive Ader im Wiener schafft es, der herrschenden strengen Ordnung etwas völlig Verqueres entgegenzusetzen, um damit neue Ordnungen herzustellen. Anfang des Jahrtausends lud das Klangforum Wien, eines der besten Ensembles für zeitgenössische Musik, zu Konzerten mit dem Titel "Symposion". Damit war nicht die heute gängige wissenschaftliche Veranstaltung mit Diskussionen und Aufsätzen gemeint, sondern eine Zusammenkunft im klassisch-antiken Sinn. Kommen und Erleben. Die Sinne schärfen bis zum Rausch. Statt Stühlen gab es Matratzen. Neben der Bühne dominierte eine Bar mit dicht aufgereihten Flaschen den Raum. Die Besucher waren ausdrücklich aufgefordert, es sich auf den Matratzen gemütlich zu machen und die an der Bar angebotenen alkoholischen Getränke zu konsumieren. Vor dem Konzert, währenddessen. Einschlafen war genauso OK wie Aufstehen und Herumgehen. Das Publikum verhielt sich erstaunlich ruhig. Die zeitgenössische Musik von Georg Friedrich Haas und Olga Neuwirth umflutete uns, und jedem war es gestattet, sich seine Stufe der Konzentration und des Hinhörens selbst einzustellen. Wem alles zu viel wurde, der konnte auch hinausgehen und dann wiederkommen. Keiner störte sich daran. Das Format kam wohl gut an. Das Klangforum bietet es nach wie vor an. Zum Beispiel am 1. Dezember diesen Jahres auf Kampnagel in Hamburg.

Trinken statt Analysieren

Das Symposion des Wiener Klangforums gefällt mir so gut, weil es die Optionen für das Erleben von "ernster" Musik in tabuisierte Bereiche hinein auslotet. Liegen statt Sitzen, Trinken statt Analysieren, Gefühl statt Verstand. Ich kann auch verstehen, dass das für manche traditioneller orientierte Klassikfreunde zu viel Herausforderung ist. "Easy going" kann ja auch so elegant sein wie beim großen Jazz-Festival in Montreux. Bei den allergrößten Acts stehen die Türen der Salle Strawinsky weit offen. "Ernste" Besucher sitzen in der Mitte, beweglichere können sich an den Seiten der Sitzreihen hinstellen und die Aufführung nach Laune verlassen. Ja, so geht Konzert auch ...

Ich für meinen Teil könnte unter solchen Umständen vielleicht wieder Freundschaft mit der Musik von Mahler und Bruckner schließen. Eingezwängt und zum Stillsitzen verurteilt ertrage ich diese Längen nicht mehr. Und anscheinend geht es Tausenden potenzieller Klassikfreunde ähnlich. 50.000 Menschen ließen sich beim Jahrgang 2018 des Klassik Open Air Nürnberg im Gras des Luitpoldhains in Nürnberg nieder. Schauen Sie nach im Stream auf BR-Concert, wie zwanglos es dort zuging. Bis zum Ende blieben sie da; die meisten wären auch dann geblieben, wenn der angekündigte Regen über sie niedergegangen wäre, Schirme und Folien hatten sie dabei. Und dann schwärmten sie davon, wie schön sie war: die Musik!

Kommentare (0)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

    AV-Player