Mit Sinn für Sound, für Familie und für den Markt hat das Jazzlabel ACT den europäischen Jazz entscheidend geprägt und gestaltet. 2022 feiert ACT seinen 30. Geburtstag. Geschäftsführer Siggi Loch und Andreas Brandis blicken zurück.
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Es ist ein grauer, regnerischer Tag in Berlin Grunewald. Feine Tropfen perlen von den welken Blättern draußen vor dem Fenster. Die Stimmung passt zu so manchem melancholischen Jazz aus Schweden oder Norwegen. Melancholisch wirken Siggi Loch und Andreas Brandis aber keineswegs. Eher entschlossen und leidenschaftlich. 2022 steht ein runder Geburtstag ihres Plattenlabels an: 30 Jahre ACT wird gefeiert, mit großen Konzerten und vielen Veröffentlichungen.
Siggi Loch, einer der erfolgreichsten Musikproduzenten der deutschen Musikgeschichte, hat bei den größten Labels des Business gearbeitet, Superhits herausgebracht und Stars zu dem gemacht, was sie heute sind. Er könnte mit seinen 82 Jahren entspannt im Ruhestand sein und sein Leben ohne Schmuddelwetter in günstigerem Klima verbringen. Tut er aber nicht. "Siggi brennt", so sagt einer seiner bedeutendsten Künstler, der Pianist Michael Wollny. "Egal, welche Stilistik, wie frei, krass oder avantgardistisch oder auch wie poplastig. Wenn Siggi merkt, der Funke springt über auf ihn, dann gibt es kein Halten mehr."
Diese Energie strahlt Siggi Loch auch im Gespräch aus. Er kann sich leidenschaftlich aufregen über Musik, die ihn kalt lässt, er kann sich aber noch leidenschaftlicher begeistern für eine Musik, die ihn anspricht und befeuert. Mit 15 hörte er zum ersten Mal Jazz. Der Saxophonist und Klarinettist Sidney Bechet trat in Hannover auf, Siggi Loch lauschte und war entflammt. Er lernte Schlagzeug und spielte in Amateur-Jazzbands. Die Musik sollte sein Beruf werden, allerdings abseits der Bühne. Er arbeitete bei unterschiedlichen Plattenlabels und machte schnell Karriere. Sein Gespür für die Musik und die Menschen, die sie spielten, war untrüglich, aber auch sein Sinn dafür, ein Publikum für Musik zu finden.
Schon Anfang der 60er Jahre träumte er von einem eigenen Jazzlabel nach dem Vorbild der legendären US-Plattenfirma "Blue Note", die 1939 von den beiden aus Deutschland ausgewanderten Jazzenthusiasten Alfred Lion und Francis Wolff gegründet wurde. Bis 1992 musste Siggi Loch warten, um seinen Traum vom eigenen Jazzlabel zu verwirklichen, dann gründete er ACT. Eines ist für Siggi Loch besonders wichtig, sein Label ist "kein Geschäftsmodell, es ist eine Mission".
Das Label war immer schon stark auf europäische Musik ausgerichtet: "Wenn ich in Europa lebe und arbeite, dann ist Amerika doch relativ weit weg. Das heißt, es war völlig logisch, dass ich angefangen habe, in Europa meine Fühler auszustrecken und es war ein Glücksfall, dass ich 1994 Nils Landgren beim Festival Jazz Baltica gehört habe. Ich habe überhaupt nicht vorgehabt, Funk Music auf meinem Label zu präsentieren. Das ist sozusagen die schwärzeste Popmusik, die man sich vorstellen kann, und dann wollten wir das verkaufen, gespielt von einem blonden Schweden. Aber es war die Künstlerpersönlichkeit von Nils, die mich überzeugt hat."
Seit 28 Jahren ist Posaunist Nils Landgren nun bei ACT unter Vertrag und hat dort nicht nur Alben mit seiner Funk Unit veröffentlicht. Er war es auch, der den Pianisten Esbjörn Svensson zu ACT brachte und etliche weitere Musikerinnen und Musiker aus Schweden.
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Das ist auch eine Besonderheit bei ACT: Der Familiensinn. Ein Großteil der Künstlerinnen und Künstler, die dort ihre Musik veröffentlichen, sehen sich als musikalische Familie und spielen auch gerne und oft in unterschiedlichen, rotierenden Besetzungen miteinander. Diese Haltung macht sich aber auch an anderer Stelle bemerkbar: "Familie heißt halt auch, dass es ein Koordinatensystem ist, das manchmal auch Dinge aushalten muss. Natürlich gibt es da auch Diskurs und Kontroversen. Wenn die Beziehung aber gesund ist, dann gibt es auch eine Streitkultur. Ich glaube, die ist entscheidend. Es braucht Austausch auf Augenhöhe, und es braucht Auseinandersetzung. Und wenn wir der Meinung sind, dass etwas als Konzept keinen Sinn macht oder die Aufnahmen noch nicht rund sind, dann muss man darüber reden und auch streiten können", sagt Andreas Brandis.
Seit 2015 ist er bei ACT. Als Co-Geschäftsführer kümmert er sich zunehmend um Organisatorisches und die Leitung. Siggi Loch kann sich hauptsächlich der Produzententätigkeit widmen. Andreas Brandis ist Jahrgang 1980, kommt aus Heidelberg, hat Schlagzeug studiert und einige Stationen im Musikbusiness hinter sich. Diese klare Regelung einer Nachfolge ist im Labelgeschäft nicht sehr häufig: "In der Label-Historie ist es schon ein einzigartiger Vorgang gewesen, dass eine prägende Produzentenpersönlichkeit tatsächlich dann auch die Größe hat zu sagen, ich suche jemanden und ich will weitergeben", so Brandis.
Heute kann man auf der ACT Homepage 611 CD-Produktionen und 157 Vinyl-Alben finden. 166 Künstlerinnen und Künstler sind dort gelistet. Aus den unterschiedlichsten Ländern weltweit kommen die Jazzerinnen und Jazzer im ACT-Programm. Es gibt schon Schwerpunkte auf die deutsche und die nordeuropäische Szene, aber insgesamt ist ACT ein vollkommen internationales Label.
Vielfalt zeichnet den Katalog aus: Funk von Nils Landgren, klassikbeeinflusster Jazz von der jungen Pianistin Johanna Summer, jazzig-spanische Folklore im Projekt "Jazzpaña", Technojazz der "Jazzrausch Bigband", aber auch die frei improvisierten Klänge von deutschen Jazzlegenden wie Saxophonist Heinz Sauer und Pianist Joachim Kühn, all das darf und soll im Kosmos "ACT" vorkommen. Jung, neu und aufregend, so darf die Musik von ACT klingen, aber eines betont Siggi Loch auch: "Mein Ehrgeiz war und ist immer noch, dass wir neue Talente finden und fördern und für sie ein größtmögliches Publikum finden, denn das ist die Existenzgrundlage, sowohl der Musiker selbst als auch der Kunstform."
30 Jahre ACT: Als Zwischenstation sehen Siggi Loch und Andreas Brandis dieses Jubiläum, denn es geht mit voller Anstrengung weiter. "Das Label ist erwachsen geworden, aber gleichzeitig auch irgendwie jung geblieben", so Brandis. "Ich glaube, dass es gar nicht so erstrebenswert ist, erwachsen zu werden. ACT und auch Siggi haben sich so ein gewisses 'Peter Pan'-Wesen erhalten: immer auf der Suche nach dem Neuen. Das hält frisch im Kopf."
Sendungen:
"Leporello" am 20. Dezember 2022 ab 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK
"Jazztime" am 27. Dezember 2022 ab 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK