Anita Lasker-Wallfisch ist eine der letzten lebenden Zeitzeugen des Holocaust. Als 18-Jährige spielte sie Cello im sogenannten "Mädchenorchester" von Auschwitz – und entkam so dem sicheren Tod. Nach Kriegsende ging sie nach England und war Gründungsmitglied des English Chamber Orchestra. Am 17. Juli 2020 wird Anita Lasker-Wallfisch 95 Jahre alt.
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"Wir waren dort wirklich in der Hölle", sagt Anita Lasker-Wallfisch über das Grauen, das sie im Konzentrationslager Auschwitz erlebt hat. Als Mitglied des Mädchenorchesters sollte die Cellistin einmal Joseph Mengele das Stück "Träumerei" von Robert Schumann vorspielen. Sie tat es, ohne ihn anzusehen. Gefühlt hat sie dabei nichts.
Sie hätten nicht überleben können im Lager, wenn Sie sich ständig in Gefühlen ergangen hätten.
Sehr direkt und mit klarer Stimme spricht Anita Lasker-Wallfisch, wenn sie sich an die traumatischen Jahre in ihrem Leben erinnert, vor mehr als 75 Jahren. Wie sie in Heimatstadt Breslau in der Schule plötzlich als Jüdin beschimpft wurde. Wie ihre Eltern, ein anerkannter Anwalt und eine begnadete Geigerin, vergeblich versuchten, einen Ausreiseantrag zu stellen. Wie die Eltern deportiert und ermordet wurden und sie mit ihrer Schwester Renate in einer Papierfabrik arbeiten musste. Mit ihr hat sie versucht, mit gefälschten Papieren in die unbesetzte Zone von Frankreich zu gelangen.
Das Tor des Konzentrationslagers Auschwitz II Birkenau | Bildquelle: Beata Zawrzel/picture alliance/NurPhoto Der Plan schlug fehl. Die Schwestern wurden verhaftet und saßen eineinhalb Jahre im Gefängnis, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden. Anita Lasker-Wallfisch war 18 Jahre alt. Auf ihrem Unterarm ist noch heute die fünfstellige Nummer lesbar, die man ihr im Konzentrationslager eintätowierte: 69388. Bei der Ankunft in Auschwitz erwähnte sie beiläufig, dass sie Cello spielte – und wurde Teil der Lagerkapelle, die von der Nichte Gustav Mahlers, Alma Rosé geleitet wurde. Man dürfe sich das nicht als ein normales Orchester vorstellen, sagt Anita Lasker-Wallfisch: "Da waren Mandolinen, ein paar Geigen, Akkordeons, Blockflöten. Das war eine Mischung von jungen Leuten, die mal irgendwas gelernt haben im Leben. Wir waren wie eine Familie."
Wir haben zueinander gehört und das hat absolut zum Überleben geholfen.
Traf im Juni 2015 Queen Elizabeth II. in Bergen-Belsen: Anita Lasker-Wallfisch | Bildquelle: picture-alliance/dpa Anita Lasker-Wallfisch empfand es als zynisch, dass im Inferno von Auschwitz heitere Musik erklingen sollte. Aber als Cellistin wurde sie wenigstens nicht in die Gaskammer geschickt. Die Mädchenkapelle musste für die aus- und einmarschierenden Häftlinge spielen und für die Wachleute der SS. Dazu gehörten Märsche, Schlager und Operetten – bis das Ensemble aufgelöst wurde und Anita und Renate ins Konzentrationslager nach Bergen-Belsen kamen. Dort gab es weder Wasser noch Medikamente, erinnert sich Anita Lasker-Wallfisch: "In Auschwitz hat man auf die raffinierteste Weise sauber die Menschen umgebracht, in Belsen ist man einfach krepiert."
Anita Lasker-Wallfisch und ihre Schwester schafften es zu überleben – und weiterzuleben. Sie wollten sich von der Vergangenheit nicht ihre Zukunft zerstören lassen. Nach der Befreiung ging Anita Lasker-Wallfisch nach London, heiratete den Pianisten Peter Wallfisch und bekam zwei Kinder. Cello spielte sie weiterhin und wurde Gründungsmitglied des renommierten English Chamber Orchestra. Musik ist für Anita Lasker-Wallfisch ein wichtiger Teil ihres Lebens. Daran hat auch Auschwitz nichts geändert.
Die Nazis haben sehr viel getötet, aber Musik ist nicht zu töten.
Anita Lasker-Wallfisch mit ihrem Enkel, dem Cellisten Simon Wallfisch | Bildquelle: © picture alliance/BREUEL-BILD Was sie in Auschwitz und Bergen-Belsen erlebt hatte, behielt Anita Lasker-Wallfisch lange für sich. Auch, um ihre beiden Kinder und ihre vier Enkel zu schützen und ihnen ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen. Mit Deutschland wollte sie nichts mehr zu tun haben, ihre deutsche Muttersprache benutzte sie nur noch selten. Zunächst hatte sie sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Eine Tournee mit dem English Chamber Orchestra brachte sie schließlich doch wieder nach Deutschland – nach über 50 Jahren. Seitdem reist sie regelmäßig hierher, hält Vorträge und geht als Zeitzeugin in Schulklassen.
Was heute wichtig ist, dass Menschen lernen, sich wie Menschen zu benehmen.
Sprach am 28. Januar 2018 im Deutschen Bundestag: Anita Lasker-Wallfisch, begleitet von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier | Bildquelle: picture-alliance/dpa Mit ihren 95 Jahren ist Anita Lasker-Wallfisch eine der letzten lebenden Zeitzeugen des Holocaust. So lange es geht, will sie von dieser Zeit erzählen. Denn kein Schulbuch kann das direkte Gespräch mit einem Zeitzeugen ersetzen, findet sie. Für ihren Einsatz gegen Judenhass und Ausgrenzung wurde sie im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. Hass ist ein Gift, erklärt sie im Detuschen Bundestag bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus. Und dass es an uns liegt, ob wir Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft billigen. "Es gibt weder Entschuldigungen noch Erklärungen für das, was damals geschehen ist."
Alles was bleibt ist Hoffnung. Die Hoffnung, dass womöglich letzten Endes der Verstand siegt.
Sendung: "Allegro" am 17. Juli 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (1)
Freitag, 17.Juli, 19:25 Uhr
Bernhard Höhmann
Anita Lasker-Wallfisch
Warum hier noch kein Kommentar?
Immer noch sprachlos...
Musik bringt es!