Mit der späten Tragödie des "König Lear" hat sich Aribert Reimann nicht nur einen der finstersten Stoffe von Shakespere vorgenommen, sondern sich auch an ein Stück herangewagt, an dem ein Komponist wie Verdi schon einmal gescheitert ist. Heute gilt Reimanns Oper als Klassiker der Avantgarde – und das nicht ohne Grund.
Bildquelle: Bayerische Staatsoper/Sabine Töpffer
Das "Taufbecken" für den Uraufführungserfolg von "Lear" ist das Münchner Nationaltheater. An einem Festspielabend des Jahres 1978, am 9. Juli, brachte Intendant August Everding mit der Oper von Aribert Reimann ein Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper auf die Bühne. Es sollte, blickt man heute zurück, der größte Opern-Hit der letzten 50 Jahre werden. Viele Häuser interessieren sich dafür, landauf und landab. Trotz immenser Anforderungen an Sänger und Sängerinnen, trotz des großen Orchesterapparats mit Riesen-Schlagwerk.
"Lear" ist ein Stück "Literatur-Oper". Das heißt: Im Libretto von Claus H. Henneberg ist so gut wie nichts verloren gegangen von der Qualität der textlichen Vorlage von Shakespeare. Musik und Gesang setzen die Worte extrem intensiv und expressiv um. Die Vertonung verstärkt den Ausdruck des Schauspiels in markerschütternden Klängen.
Die Werke des englischen Dramatikers William Shakespeare haben viele Komponisten inspiriert. Manche dieser Vertonungen gehören für Dirigenten und Orchester zum etablierten Kernrepertoire der Klassik – etwa die Ouvertüre zum "Sommernachtstraum" von Felix Mendelssohn Bartholdy. Eine Partitur mit vergleichbarer Langzeitperspektive ist auch Reimanns "Lear". Obwohl das Werk eine der seelisch grausamsten Tragödien der Geschichte darstellt: die "Isolation des Menschen in totaler Einsamkeit, der Brutalität und Fragwürdigkeit des Lebens ausgesetzt", wie der Komponist Reimann es selbst beschrieb.
"Lear" ist der einzige Stoff Shakespeares, an dem einer seiner größten Verehrer unter den Opernkomponisten gescheitert ist – Giuseppe Verdi. Dessen Partien für Macbeth und Falstaff, vor allem aber Otello, haben den Figuren der literarischen Vorlage in der Gunst des Publikums den Rang abgelaufen. Die drei hätten sicher gern durch König Lear Gesellschaft bekommen. Doch die zentrale Sturmszene und die musikalische Umsetzung der psychologischen Gewalt des Stoffes erschien Verdi als unrealisierbar. Nach einigen kompositorischen Versuchen gab er ernüchtert auf. Dadurch sticht Aribert Reimanns Oper noch mehr heraus, denn ein historischer Vergleich kann hier nicht gezogen werden.
Für die Bayerische Staatsoper ist es nun, 43 Jahre nach der Uraufführung, die erste "Lear"-Neuproduktion. Zwei Prominente ihrer Zunft geben ihre Hausdebüts: der Schweizer Theater- und Opernregisseur Christoph Marthaler und der finnische Dirigent Jukka-Pekka Saraste. Ein langjähriger Stammgast, der Bayerische Kammersänger Christian Gerhaher, übernimmt erstmals die Titelrolle. Damit sind auf allen Ebenen herausragende Interpreten am Start. Sie werden sich an den ersten Interpreten des Stücks, am Uraufführungsteam messen lassen müssen: 1978 waren Jean-Pierre Ponnelle, Gerd Albrecht und Dietrich Fischer-Dieskau versammelt. Fischer-Dieskau, der "Ur-Lear", war auch der Initiator der Oper: 1968 regte er Reimann persönlich zur Komposition an.
Sendung: "Allegro" am 25. Mai 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK