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Studie zu mysteriösen Tempoangaben bei Beethoven Hat der Meister sein Metronom falsch gelesen?

Zwei Mysterien ranken sich um Beethoven. Die Frage nach seiner unsterblichen Geliebten – und die Frage nach seinen Tempovorgaben. Denn einige Metronomzahlen, die Beethoven in seinen Werken verlangt, sind schlicht unspielbar schnell. Hat seine Taubheit sein Tempoempfinden beeinträchtigt? War vielleicht sein Metronom kaputt? Vielleicht keines von beidem. Eine neue Studie aus Spanien stellt jetzt eine überraschende Hypothese auf: Beethoven könnte das Metronom schlicht und einfach falsch abgelesen haben.

Bildquelle: © Basel Historical Museum

Umstrittene Metronomangaben

Hat Beethoven sich verlesen?

138 Schläge pro Minute. Dieses Tempo hat Beethoven über dem 1. Satz seiner Hammerklaviersonate vermerkt. Selbst für Klaviervirtuosen ist das so gut wie unspielbar. Auch die Physikerin und ausgebildete Pianistin Almudena Martín Castro hat sich schon im Klavierstudium den Kopf zerbrochen über Beethovens Metronomangaben. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Klarinettisten und Ingenieur Iñaki Úcar, wollte sie dem Mysterium auf den Grund gehen. Sie stellt die These auf, "dass Beethoven schnellere Tempi notiert hat, als er eigentlich wollte". Aber warum? Um das herauszufinden, haben Almudena Martín Castro und Iñaki Úcar Beethovens Metronom nachgebaut – als virtuelles Modell.

Auf den Spuren der zu schnellen Tempi

Zeichnungen und Fotos der ersten Metronome halfen den beiden dabei. Denn das originale Beethoven-Metronom ist verschollen. Bei der Rekonstruktion fiel den Wissenschaftlern etwas auf: Es gibt eine Besonderheit bei dem kleinen verschiebbaren Gewicht am Pendel, mit dem man die Schlaggeschwindigkeit einstellt. Das Gewicht hat die Form eines Pfeils, der nach unten spitz zuläuft. Was also, wenn Beethoven das Metronom einfach falsch abgelesen hat?

In Beethovens Zeit war das völlig neu, Tempo mit konkreten Zahlen zu assoziieren.
Jan Caeyers, Dirigent und Beethoven-Biograf

Porträt von Ferdinand Waldmüller | Bildquelle: picture-alliance/dpa Ludwig van Beethoven | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Wenn Beethoven also nicht die Zahl oberhalb des Gewichts aufgeschrieben hat, sondern aus Versehen die Zahl unterhalb des Gewichts, also dort, wo der Pfeil hinzeigt? Immer zwölf Schläge zu viel? Das könnte tatsächlich so gewesen sein, bestätigt der Dirigent und Beethoven-Biograf Jan Caeyers: In Beethovens Zeit sei das völlig neu gewesen, Tempo mit konkreten Zahlen zu assoziieren. "Und wir kennen es doch alle: Wir gehen ins Geschäft und kaufen uns ein neues Handy – wer macht schon bei einem neuen Gerät alles richtig?"

Dass Beethoven ein neues Metronom bekommen hat und es schlecht verstanden hat, ist also durchaus denkbar. Es könnte auch der Grund sein, weshalb Beethoven für den 1. Satz der 9. Sinfonie zwei verschiedene Tempoangaben notiert hat. Nämlich 108 oder 120. Stimmt die Theorie, müssten also die entsprechenden Stücke von Beethoven zwölf Schläge pro Minute langsamer gespielt werden als angegeben. Also statt Tempo 120 nur im Tempo 108.

Analyse mit 36 Beethoven-Einspielungen

Doch wie sieht es in der Praxis aus? Almuneda Martín Castro und Iñaki Ucar haben sich für ihre Analyse 36 Einspielungen aller neun Beethoven-Sinfonien vorgeknöpft: Aufnahmen von 1940 bis 2010, von unterschiedlichen Dirigenten und unterschiedlichen Orchestern. Für jeden Satz analysierten sie mithilfe eines Computerprogramms das Tempo. Das Ergebnis der aufwändigen Prüfung: Im Schnitt spielen Orchester die Sätze der Sinfonien tatsächlich 12 bis 13 Metronomschläge pro Minute langsamer als angegeben.

Für Jan Caeyers ist diese Entdeckung allerdings noch kein wissenschaftlicher Beweis: Nur weil Orchester eine Sinfonie intuitiv langsamer spielen, heißt das nicht automatisch, dass Beethoven andere Metronomzahlen gemeint haben muss. Caeyer meint, es könnte durchaus sein, dass alle Interpretationen falsch sind. "Wenn man sich ein Stück jahrelang in einem gewissen Tempo anhört, ist es in unser Bewusstsein so eingeprägt, dass wir jede Abweichung als falsch empfinden."

Mysterium bleibt bestehen

Und selbst wenn Beethoven sich tatsächlich verlesen haben sollte, was bedeutet das dann für die Tempoangaben in den langsamen Sätzen? Denn die müsste man ja noch viel langsamer spielen, gibt Jan Caeyers zu bedenken. Das Mysterium um die Metronomzahlen bleibt also. Jan Caeyers glaubt, dass Beethoven seine Tempoangaben ohnehin nicht als exakte Angabe verstanden haben wollte, sondern als Orientierung. Denn eines steht fest, Tempo hin oder her: Eine korrekte Metronomzahl allein garantiert noch keine gelungene Beethoven-Interpretation.

Sendung: "Leporello" am 5. Februar 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (3)

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Samstag, 06.Februar, 11:49 Uhr

Wilfried Schneider

HAT DER MEISTER SEIN METRONOM FALSCH GELESEN?

Ach je, warum ärgert sich W. Viereck über die Versuche der Musikwissenschaftler, die "richtigen" Tempi in der Musik zu erforschen? Man streitet sich heute noch um die Metronom-Angaben, die Clare Schumann nachträglich ihrem Gatten verpasst hat und natürlich wüsste man gerne, wie schnell zum Beispiel Mozart seine Sonaten gespielt hat (warnendes Beispiel Glenn Gould!) und so weiter. Natürlich sind die Metronom-Angaben Beethovens auch ein interessantes Thema. Aber wie dem auch sei. Tempo ist in der Musik immer subjektiv. Für mich gibt es (auch subjektiv) in der Musik ein "zu langsam" und ein "zu schnell", zwischen diesen beiden Polen empfinde ich ein Tempo als "richtig". Celibidache empfand ich, bis auf wenige Ausnahmen, (wieder subjektiv) als zu langsam, Bach und Mozart konnte er einfach nicht. Lassen Sie der Wissenschaft ihre Vergnügungen bei der Temposuche und genießen Sie die Musik, ohne sich Gedanken über die zu machen, die sich (vielleicht) zu viele Gedanken darüber machen.

Donnerstag, 04.Februar, 21:56 Uhr

W. Viereck

Allmählich wird es albern,...

... welche Theorien über Beethovens Metronomzahlen auftauchen. Falsches Tempoempfinden des Komponisten, Metronom ging falsch, bewusst oder unbewusst (weil falsch abgelesen) falsch gesetzte Zahlen - eine Theorie merkwürdiger als die andere. Braucht es jetzt schon solche Art von Musikwissenschaft, um eine Interpretation zu begründen? Es gibt und gab einfach bestimmte Moden in der Aufführungspraxis und solche Interpreten, die sich gegen die Mode gestellt haben. Und dass die Metronomzahlen nicht zu realisieren wären (beispielsweise in den Symphonien), ist zu Genüge widerlegt worden (durch Einspielungen von Leibowitz, Gardiner, Zinman, Järvi, Fischer etc.). Bei soviel "Wissenschaft" vergeht einem die Lust am Anhören der Musik!

Donnerstag, 04.Februar, 21:43 Uhr

W. Viereck

Beethovens 9. Symphonie

Woher hat die Autorin bitte diese Metronomangaben zum 1. Satz von Beethovens 9. Symphonie? In sämtlichen mir verfügbaren Partituren steht keine dieser beiden Angaben, sondern immer Viertel = 88.

Antwort BR-KLASSIK: Die Angabe „108 oder 120 Mälzel“ steht auf der ersten Seite in Beethovens Autograph der 9. Sinfonie. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN756658373&PHYSID=PHYS_0009&DMDID=DMDLOG_0001

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