Beethoven bewegt
BR-KLASSIK feiert Beethovens 250. Geburtstag
Ein Gebirge, eine Strapaze, ein komponierter Superlativ — und mehr, als ein Mensch in einem Menschenleben begreifen kann. Die Hammerklaviersonate op. 106, sagt Igor Levit, ist voller hysterischer Freude, übergeschnappt, verzweifelt, und in der abschließenden Fuge gerät die Welt aus den Fugen. Apokalyptisch.
Bildquelle: Felix Broede
Nervös vor Konzerten? Kennt Igor Levit nicht. Mit einer Ausnahme: Die "Hammerklaviersonate" steht auf dem Programm. "Es ist für mich das allerbedeutendste Stück Klaviermusik — und zugleich die beglückendste und gefährlichste Reise auf der Rasierklinge, die ich kenne," sagt Igor Levit im BR-KLASSIK Podcast.
Beethovens Mammutwerk ist nicht nur eine der längsten Klaviersonaten der Musikgeschichte. Hier treffen auch vier ganz unterschiedliche Sätze aufeinander, die dem Spieler alles abverlangen: technisch, emotional, mental, körperlich... Also in jeder Hinsicht ein "Peak" der Klavierliteratur, ein dramatischer Höhepunkt. Eine Grenzerfahrung für Pianisten wie Hörer: "Was kann jemand am Klavier, und was kann jemand als Hörender begreifen, ergreifen und auch ertragen?"
Es ist ein Rasierklingenritt vom ersten bis zum letzten Takt.
In der ganzen Musikgeschichte gibt es nichts Vergleichbares, findet Levit. Nicht einmal die h-Moll-Sonate von Franz Liszt. Dabei gibt es Stücke, die länger dauern und "noch unspielbarer" sind. Einzigartig bei der "Hammerklaviersonate" ist für Levit die Kombination von technischer Strapaze und pschologischen Extremen: "Sie ist so apokalytisch wie leidend, so still wie gewaltsam. Anders als alles Vorhergegangene."
Den Podcast "32 x Beethoven" mit Igor Levit und Anselm Cybinski finden Sie hier – jede Folge behandelt eine Klaviersonate.
Alles dehnt sich aus in der "Hammerklaviersonate". Länge, Tonumfang, harmonisches Spektrum... Und es ist die einzige Klaviersonate, in der Beethoven Metronomzahlen vorschreibt. Kurz zuvor, 1815, hatte Johann Nepomuk Mälzel das Metronom erfunden.
So apokalytisch wie leidend, so still wie gewaltsam.
Hält sich der Pianist im ersten Satz an die vorgeschriebenen 138 MM, dann ist das ziemlich schnell — jedenfalls deutlich schneller, als man es meistens hört. Selbst Igor Levit spielt es diesen Satz nicht ganz so rasant. Was wollte Beethoven mit diesem aberwitzigen Tempo ausdrücken? "Für mich ist dieser erste Satz pure Hysterie", sagt Levit.
Es ist hysterische Musik - pianistisch ein Parforceritt.
"Ich kenne kein einziges Klavierstück, wo so viele fundamental wichtige Entscheidungen auf dem Schwierigkeitslevel auf einmal zu treffen sind." Wie soll man das Stück spielen? Wie interpretieren? Die Anfangstakte der Sonate beispielsweise hatte Beethoven in einer Skizze selbst mit den Worten "Vivat, vivat Rodolphus" unterlegt — dem Erzherzog Rudolf hat er das Werk gewidmet. Doch in dem schnellen Tempo ist ein repräsentativer Gestus undenkbar. Eine Verbeugung vor der Monarchie? Genauso gut kann man einen Aufruf zur Revolution darin hören.
Anselm Cybinski und Igor Levit entschlüsseln im Podcast "32xBeethoven" die Klaviersonaten. | Bildquelle: Christian Kruppa Der zweite Satz ist ultrakurz: zweieinhalb Minuten. Igor Levit bezeichnet ihn als "durchgeknallt". Trotzdem ist er für ihn "mit einem Gigabyte Informationen" geladen. Der Kern des Anfangsthemas umschreibt eine Terz — das zentrale Intervall in der "Hammerklaviersonate". In kurzen Schwellern steigt und fällt die Melodie — für Igor Levit hat es etwas "Beißendes". Im Mittelteil kommt eine Melodie, die entfernt an die "Eroica" erinnern mag — für Levit weniger Melodie als vielmehr eine Fläche. Und obwohl er die Sonate total verehrt, schüttelt er den Kopf über den Presto-Übergang zur Reprise, der in einem rasanten Lauf gipfelt: ein "musikalischer What-the-fuck-Moment"! Was wollte Beethoven damit ausdrücken? Ein Rätsel. "Das klingt, wie wenn jemand einen großen Stapel Papier nimmt, zerreißt und wegwirft", sagt Levit. Klar, dass er gerade diese Verrücktheiten liebt.
"Die ganze Hammerklaviersonate ist für mich 'appassionato'." Ganz besonders gilt das für den dritten Satz. Appassionato e con molto sentimento — Leidenschaftlich und mit viel Gefühl möchte Beethoven ihn gespielt wissen. Und so hat er ihn auch komponiert. "Alles an diesem Satz ist herzzerreißend", sagt Igor Levit. "Der Affekt ist ein verzweifelter, er ist bohrend."
Alles an diesem Satz ist herzzerreißend.
15 Minuten bohrende Verzweiflung — bei Igor Levit. Dabei spielt er das Adagio recht zugügig. Aber an Beethovens flotte Metronomzahl von 92 MM hat sich nicht einmal Franz Liszt gehalten. Trotzdem ist es wohl der längste langsame Satz, den Beethoven geschrieben hat. Nicht nur zeitlich, auch musikalisch erschließt Beethoven neue Dimensionen: "Die Themen bekommen kosmische Ausmaße," sagt Levit.
Den Höhepunkt erreicht der Adagio-Satz kurz vor dem Ende: "Hier geht ein Mensch in seiner Verzweiflung zugrunde", sagt Levit. Dann ist "alles auserzählt." Apokalypse. Nach diesen ersten drei Sätzen fühlt er sich erschöpft: "Jetzt noch weiterzumachen, ist unmenschlich."
Die Überleitung zur Schlussfuge bezeichnet Igor Levit als "musikalisches Wunder". Wie in einer Improvisation wechselt Beethoven zwischen Momenten des Suchens und Findens, scheinbar spoantan und nie ganz vorhersehbar — für Igor Levit ein "Höhepunkt an innerer Freiheit und musikalischer Immaterialität". Danach beginnt das eigentliche Fugen-Finale: der größtmögliche Gegensatz zum langsamen dritten Satz. Die Fuge beginnt mit großen Sprüngen und penetranten Trillern. Es ist, als wüsste die Musik nach der maximalen Spannung, die der langsame Satz ausgebaut hat, keinen anderen Ausweg: "Du brauchst einen Katalysator, wo du einfach das alles rauslässt."
Das sind pianistische apokalyptische Momente.
Mit ihren strengen Regeln ist die Fuge eigentlich eine sehr traditionelle Satzform. Beethoven verstößt in seinen Fugen immer wieder dagegen, erlaubt sich Freiheiten. Er macht aus der strengen Form, der man "gehorchen" muss, etwas völlig neues, etwas ganz eigenes. Er "poetisiert" die Fuge, sagt Levit, macht sie zum Ausdrucksmittel, hebt sie auf einen nie dagewesenen Level: "Was für ein geiler Komponist!" Die Sonate endet brutal, "in einem Meer aus Faustschlägen. Hier gerät die Welt aus den Fugen. Da steht nichts mehr aufeinander."
Den Podcast "32 x Beethoven" mit Igor Levit und Anselm Cybinski finden Sie hier – jede Folge behandelt eine Klaviersonate.
Klaviersonate Nr. 29 B-Dur, op. 106 "Hammerklaviersonate"
Entstehung: 1817-18, gewidmet dem Erzherzog Rudolph von Österreich
Sätze: 1. Allegro, 2. Scherzo: Assai vivace, 3. Adagio sostenuto, Appassionato e con molto sentimento, 4. Largo, Un poco piu vivace, Allegro, Prestissimo, Allegro risoluto
Der Clou: Es ist eine der längsten Klaviersonten der Musikgeschichte, in der Beethoven nciht nur pianistisch alle Grenzen sprengt.
Der Titel: Beethoven suchte nach dem Ende der Napoleonischen Ära deutsche Titel für seine Werke und kam so auf den Ausdruck Hammerklavier - als Equivalent zum italienischen Pianoforte.
Sendung: "32 x Beethoven" am 15. September 2020, 19:05 Uhr auf BR-KLASSIK