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Neue Alben von BR-KLASSIK 1923 - Der wilde Sound der 20er

Hyperinflation, Nachkriegs-Depression und politische Radikalisierung – kein Wunder, dass in der Weimarer Republik die Lust aufs Amüsement Hochkonjunktur hat. In der Musik entwickelt sich Jazz neben Neuer Musik und Volkstümlichem. BR-KLASSIK widmet der Musik der goldenen Zwanziger nun zwei neue Alben.

BR-KLASSIK CD 900206
Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks | Bildquelle: BR

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Es ist das reiche kulturelle Leben, das der Blütezeit der Weimarer Republik den Ruf der "Goldenen Zwanziger" verschafft hat. Mit der Einführung der Rentenmark im November 1923 wird in Deutschland die Inflation gestoppt, die erste Rundfunkübertragung ein Monat zurvor war die Geburtsstunde von Rundfunkchören und -orchestern: Musik spielt eine völlig neue Rolle: sie wird gebraucht für das aufregend-neue Medium Radio. Immer mehr Menschen können sich zudem ein Grammophon leisten.

Komponisten der "Goldenen Zwanziger"

Komponisten dieser Ära boten sich zahlreiche stilistische Möglichkeiten: das Publikum begeisterte sich ebenso für Josephine Baker und ihr Bananenröckchen wie für den kleinen, grünen Kaktus der Comedian Harmonists. Künstler wie Ernst Toch, Kurt Weill, Ernst Krenek und Béla Bartók gingen da musikalisch ganz andere Wege, ebenso der der fast vergessene André Caplet. Ihnen widmet BR-KLassik zwei neue Alben.

Komponist Ernst Toch - Untanzbare Tänze

San Francisco von oben. Bild in schwarz weiss | Bildquelle: picture-alliance/dpa Luftaufnahme von San Francisco im Jahr 1949 | Bildquelle: picture-alliance/dpa Das eine Album "1923 – Bartók, Krenek, Toch, Weill" beinhaltet Musik einer Reihe von Komponisten, die mit ihrer Musik die Stimmung dieser Zeit transportieren. Da ist zum Beispiel die "Tanz-Suite" von Ernst Toch. Ein Komponist, der aus einer jüdischen Familie in Wien stammte und später vor dem Austrofaschismus ins amerikanische Exil floh. Das mit Flöte, Klarinette, Geige, Bratsche, Kontrabass und – für das Taktgefühl beim Tanz ja nicht ganz unwichtig – Schlagzeug originell besetzte Werk eignet sich allerdings kaum für gepflegten Gesellschaftstanz auf spiegelndem Parkett. Dafür ist es zu wild, zu grell, zu expressiv. Komponiert hat Toch seine "Tanz- Suite" ja auch im Auftrag einer Schülerin von Mary Wigman, der legendären Pionierin des modernen Ausdruckstanzes – auch ein zeittypisches Phänomen der Zwanziger Jahre. Satztitel wie "Der rote Wirbeltanz", "Der Tanz des Grauens", "Der Tanz des Schweigens" oder "Der Tanz des Erwachens" gaben der Choreografin ein bildmächtiges Szenario vor.

Liederzyklus "Frauentanz" von Kurt Weill

Mitglieder aus dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks haben während der Corona-Pandemie 2021 auch den ähnlich kammermusikalisch besetzten Liederzyklus "Frauentanz" von Kurt Weill musiziert, in einem jener hörenswerten Mittagskonzerte, die ohne Publikum live aus dem Studio 2 des Münchner Funkhauses gesendet wurden. Die agile Sopranistin Anna-Maria Palii präsentierte diese sieben "Minnelieder", die der junge Weill nach Liebeslyrik aus dem Mittelalter vertont hat – mit Humor, Distanz und Hintersinn, noch fern seines späteren Musical-Idioms. Aber in ihrer knochentrockenen Diktion und angeschrägten Harmonik sind diese Songs doch schon unverkennbarer Weill.

A-cappella-Chöre von Ernst Krenek

Chor des Bayerischen Rundfunks | Bildquelle: BR-Chor / Astrid Ackermann Chor des Bayerischen Rundfunks | Bildquelle: BR-Chor / Astrid Ackermann Der Chor des Bayerischen Rundfunks ging mit seinem damaligen Künstlerischen Leiter Howard Arman extra ins Studio, um für das Album "1923 – Bartók, Krenek, Toch, Weill" eine frühe Talentprobe von Ernst Krenek zu produzieren: drei gemischte Chöre nach Gedichten von Matthias Claudius. Krenek, gebürtiger Wiener mit böhmischen Wurzeln, wie Weill Jahrgang 1900, emigrierte wie Toch und Weill vor dem Nazi-Terror in die USA. Drei klangvolle A-cappella-Chöre sind Krenek da gelungen zwischen romantischem Chorklang und erweiterter Tonalität. Passend zu den Gedichten "Der Mensch" und "Tröstung" von Claudius über Vergänglichkeit und Tod haben die ersten beiden Chöre meditativen Charakter. Der dritte "Die Römer" setzt dann einen überraschenden Schlusspunkt: Schon der Text von Claudius über die Dekadenz, auf die der Dichter den Untergang des römischen Reiches zurückführt, ist voller ironischer Volten. Und Krenek hat noch eins draufgesetzt, indem er den Chorsatz als Walzerparodie gestaltete.

"Tanz-Suite" von Béla Bartók

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, 2017 dirigiert von Cristian Măcelaru, rundet dieses Album mit einem Meisterwerk des Ungarn Béla Bartók ab: Seine "Tanz-Suite" war 1923 vom Stadtrat von Budapest bei Bartók in Auftrag gegeben worden. Anlass war der 50. Jahrestag der Vereinigung der Stadtteile Buda und Pest zur neuen ungarischen Hauptstadt. Erhofft hatte man sich damit eine Verherrlichung der ultranationalen Regierung – der weltoffene Bartók kam diesem Wunsch allerdings nur in der äußerlichen Brillanz seiner Komposition nach, in Wahrheit unterlief er dieses chauvinistische Ansinnen gekonnt. Indem er nämlich als erfahrener Volksmusikforscher Melodien zur Grundlage seiner "Tanz-Suite" machte, die er nicht nur ungarischer, sondern auch rumänischer, slowakischer und sogar arabischer Folklore nachempfunden hatte. "Das Werk ist insofern kein Monument für die vermeintliche Überlegenheit nationaler Kultur", so der Booklet- und Buchautor Tobias Bleek zum Thema, "sondern ein eindrückliches Statement für die produktiven Kräfte des kulturellen Austausches."

André Caplet: Le miroir de Jésus

In eine ganz andere, spirituelle Klangwelt führt das zweite BR-KLASSIK-Album zum Jahr 1923 – und zeigt damit, wie unterschiedlich der Sound der Zwanziger Jahre klingen kann. Ein einziges, großes Bekenntniswerk steht hier im Fokus, das 2019 in der Münchner Herz-Jesu-Kirche im Rahmen der "Paradisi gloria"-Konzertreihe des Münchner Rundfunkorchesters eine denkwürdige Aufführung erlebte: "Le miroir de Jésus – Der Spiegel Jesu" des französischen Komponisten André Caplet. Der ist heute weitgehend vergessen, war aber seinerzeit vor allem als Schüler und enger Mitarbeiter von Komponist Claude Debussy bekannt. Caplet selbst lebte recht erfolgreich als Dirigent und Komponist – bis das Jahr 1914 kam, Caplet voller Enthusiasmus in den Krieg zog und sich infolge einer Gasvergiftung schwere Lungenschäden zuzog, an deren Folgen er 1925 mit nur 46 Jahren starb. Zu seinem Vermächtnis wurde eben jenes großangelegte oratorische Werk "Le miroir de Jésus" von 1923, dessen Pariser Uraufführung im Jahr darauf der geschwächte Komponist nur unter größten Mühen noch selbst dirigieren konnte. Im Untertitel nannte Caplet seine Komposition "Mystères du rosaire", also "Mysterien des Rosenkranzes". Die vertonten Texte stammen von dem französischen Schriftsteller Henri Ghéon, der während des Ersten Weltkriegs zum Katholizismus konvertierte und fortan religiöse Dramen, Mysterienspiele und Heiligenlegenden schrieb.

Darum geht's in "Le miroir de Jésus"

BR-KLASSIK CD 900342
Münchner Rundfunkorchester
Chor des Bayerischen Rundfunks
Howard Arman | Bildquelle: BR Bildquelle: BR "Le miroir de Jésus" ist in drei Teile zu je fünf Gedichten gegliedert, die aus der Perspektive Marias die gesamte Lebens- bzw. Passionsgeschichte Jesu in fünfzehn Stationen spiegeln – beginnend mit der Verkündigung Mariä und endend mit ihrer Krönung im Himmel. Es war wohl die besondere sprachliche Qualität der Marien-Gedichte von Ghéon, mehr Selbstreflexionen einer leidenden Mutter als litaneiartige Rosenkranz-Gebete, die Caplet zur Komposition seines Zyklus drängte – Ghéons poetische Verse wirken allein schon wie Musik. Die Stimme der Muttergottes hat Caplet einem Mezzosopran anvertraut, ein Frauenchor intoniert die einzelnen Kapitelüberschriften, beschließt sie im ersten Teil "Spiegel der Freude" mit bekannten Bibel-Zitaten wie "Ave Maria", "Magnificat anima mea" oder "Gloria in excelsis Deo", im dritten Teil "Spiegel der Glorie" mit Lobpreisungen wie "Alleluja" und "Sanctus". Die orchestrale Begleitung der Frauenstimmen hat Caplet auf eine reine Streicherbesetzung mit Harfe reduziert – und erzielt mit diesem Instrumentarium vor allem in den ausgedehnten Vorspielen zu den drei Teilen von "Le miroir de Jésus" ganz eigene, magische Klangwirkungen, die im mittleren Teil "Spiegel des Leids" kulminieren und den Schmerz Marias angesichts der Brutalität der Kreuzigung bis hin zum erregten Aufschrei illustrieren.

Caplets Mentor: Claude Debussy

Komponist Claude Debussy | Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library Claude Debussy | Bildquelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library Die stilistische Bandbreite Caplets reicht von mittelalterlichen Vokaltechniken und gregorianischen Gesängen bis zu seiner eigenen Gegenwart – und das war der neuartige Impressionismus seines Mentors Claude Debussy. Vor allem die raffinierten Klangmischungen und melismatischen Stimmführungen in Debussys Oper "Pelléas et Mélisande" haben den jungen Caplet fasziniert und nachhaltig beeinflusst. "Caplet wusste sicherlich, wie es um ihn stand, als er kaum zwei Jahre vor seinem Tod dieses große geistliche Werk ersann. Seine Rosenkranz-Komposition zeugt von einer erstaunlichen, heute viel zu selten gewürdigten Begabung, aber auch von Caplets friedvoller Glaubensgewissheit. So wurde 'Le miroir de Jésus' zu seinem spirituellen Testament." Mit diesem Resümee beschließt die Booklet-Autorin Anna Vogt ihren lesenswerten Essay zur aktuellen BR-KLASSIK-Veröffentlichung, die eine musikalische Sternstunde von 2019 dokumentiert. Damals dirigierte Howard Arman, Künstlerischer Leiter des BR-Chores, den Frauenchor seines Ensembles und die Streicher des Münchner Rundfunkorchesters. Das Highlight dieses Konzertmitschnitts ist aber die überwältigende Gesangsleistung von Anke Vondung, die mit ihrem gehaltvollen Mezzo, ihrem lyrischen Timbre und ihrem wunderbaren Französisch eine ideale Interpretin der anspruchsvollen Solopartie ist.

"1923 – Bartók, Krenek, Toch, Weill"

Ernst Toch (1887–1964)
Tanz-Suite für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Kontrabass und Schlagzeug, op. 30
Kurt Weill (1900–1950):
Frauentanz Sieben Gedichte des Mittelalters für Sopran, Flöte, Viola, Klarinette, Horn und Fagott, op. 10
Ernst Krenek (1900–1991):
Drei gemischte Chöre a cappella, op. 22
Béla Bartók (1881–1945):
Tanz-Suite für Orchester, Sz 77

Mitglieder des BRSO:
Korbinian Altenberger Violine
Benedict Hames Viola
Natalie Schwaabe Flöte
Bettina Faiss Klarinette
Lukas Richter Kontrabass
Guido Marggrander Schlagzeug
Ursula Kepser Horn
Jesús Villa Ordóñez Fagott

Mitglied des BR-Chors:
Anna Maria Palii, Sopran

Chor des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Howard Arman
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Cristian Măcelaru


BR-KLASSIK CD 90206
Total Time: 68:04 Minuten

Erhältlich im Handel und im BRshop

1923 – André Caplet: "Le miroir de Jésus"

Anke Vondung, Mezzosopran

Chor des Bayerischen Rundfunks
Münchner Rundfunkorchester


Howard Arman, Leitung

BR-KLASSIK CD 900342
Total Time: 60'34 Minuten

Erhältlich im Handel und im BRshop

Sendung: "Allegro" am 1. Februar 2023 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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