Der wilde Sound der 20er
In den 1920er-Jahren gerät nicht nur die Welt, sondern auch die Musik und das Musikleben ins Taumeln. Tobias Bleek zeigt in seinem neuen Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme", wie eng Musik und Gesellschaft miteinander verflochten sind. Sein Buch erscheint im April bei Bärenreiter/Metzler – einige Auszüge daraus veröffentlicht BR-KLASSIK exklusiv. Zum Auftakt geht es um Musik als Mittel des politischen Kampfes im besetzten Ruhrgebiet.
Bildquelle: © Fotograf unbekannt/Fotoarchiv Ruhr Museum
Dass 1923 in Deutschland ein besonderes Krisenjahr werden würde, zeichnete sich bereits Anfang Januar ab. Am 9. Januar hatte die alliierte Reparationskommission auf Drängen Frankreichs erklärt, dass das Deutsche Reich die vereinbarten Reparationsleistungen ein weiteres Mal nicht erbracht und somit erneut den Versailler Vertrag verletzt habe. Kurz darauf teilten die Regierungen Frankreichs und Belgiens der politischen Führung in Berlin mit, dass ihre Truppen am 11. Januar mit der Besetzung des Ruhrgebiets beginnen würden, um sich die verweigerten Sachleistungen vor Ort selbst zu beschaffen. Damit eskalierte ein Konflikt, der sich bereits in den vorausgegangenen Monaten kontinuierlich verschärft hatte und die krisengeschüttelte Weimarer Republik vor ihre bis dahin größte Bewährungsprobe stellte.[1] Im Rahmen der Rheinlandbesetzung gab es zwar schon seit Anfang 1919 alliierte Truppen auf deutschem Boden. Stationiert in den linksrheinischen Gebieten, an zentralen rechtsrheinischen Brückenköpfen und seit 1921 auch in Düsseldorf und Duisburg, überwachten sie eine von deutschen Streitkräften entmilitarisierte Zone, garantierten die Sicherheit Frankreichs und dienten zugleich als Druckmittel, um Deutschland zur Erfüllung des Versailler Vertrags anzuhalten. Mit dem Einmarsch französischer und belgischer Truppen in die Kernregion der deutschen Montanindustrie veränderte sich die außen- und innenpolitische Lage jedoch grundlegend. In den Fokus der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit geriet dabei zunächst die Großstadt Essen, das urbane Zentrum des Ruhrgebiets, mit ihren damals knapp 480.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Reichspräsident Friedrich Ebert | Bildquelle: picture-alliance/dpa Während die Regierung Poincaré ihr Vorgehen als legitimes Mittel verstand, um berechtigte französische Interessen durchzusetzen, verurteilten Reichspräsident Ebert und Reichskanzler Cuno die bevorstehende Besetzung. In einem Aufruf an "die Ruhrbevölkerung", der am 10. Januar in diversen Zeitungen erschien und vor Ort "durch öffentlichen Anschlag" verbreitet wurde, prangerten sie die "Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes" mit scharfen Worten an, appellierten aber gleichzeitig an die Vernunft der Menschen: "Harrt aus in duldender Treue, bleibt fest, bleibt ruhig, bleibt besonnen! […] Haltet alle Zeit hoch die deutsche Einheit und unser gutes Recht!"[2] Unter dem Eindruck der sich überschlagenden Ereignisse, der erregten Stimmung in der Bevölkerung und des Aufrufs aus Berlin beriefen Vertreter der Essener Bürgerschaft noch für denselben Abend eine "Protestversammlung gegen die unmittelbar drohende Besetzung durch französische Truppen" ein. Schenkt man den pathetischen Zeitungsberichten Glauben, so war die Resonanz auf diese spontane Initiative enorm.[3] Obwohl die Einladung erst in den Nachmittagsstunden verbreitet wurde, strömten am Abend mehr als 10.000 Menschen zu dem kurz nach der Jahrhundertwende errichteten repräsentativen Konzerthaus der Stadt. Jedes "Plätzchen im Saal, auf der Empore, in den Wandelhallen" war schon lange vor Beginn besetzt. Und auf der angrenzenden "Huyssenallee stauten sich noch Tausende, die keinen Eingang finden konnten".
Ziel der Zusammenkunft war es, dem Protest der Essener Bevölkerung symbolisch Ausdruck zu verleihen, über politische Grenzen hinweg Geschlossenheit zu demonstrieren und sich kollektiv auf den Tag des Truppeneinmarsches vorzubereiten. So betonte der Versammlungsleiter Dr. Keller, Vorsitzender der Ortsgruppe der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), zu Beginn seiner Rede, "nicht als Angehöriger einer Partei, sondern als Bürger, als Deutscher" zu sprechen. In Anlehnung an die Worte des Reichspräsidenten schwor er die Anwesenden auf einen gewaltfreien Widerstand im Rahmen der republikanischen Ordnung ein: Als Nächstes ergriff der Zentrumsabgeordnete und ehemalige Reichsminister Johannes Bell das Wort. In seiner emotionsgeladenen Rede appellierte er, von heftigen Beifallsbekundungen unterbrochen, an das Nationalbewusstsein und kulturelle Selbstverständnis der Versammelten: "Ein 60-Millionen-Volk von den kulturellen Kräften der deutschen Nation kann nicht untergehen […], so lange es sich nicht selbst aufgibt."[4] Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine gemeinsame Selbstverpflichtung. Man gelobte "unerschütterliche Treue zu Volk und Vaterland" und verpflichtete sich zugleich, am Besatzungstag die deeskalierende Handlungsmaxime "Fort von den Straßen, schließt die Läden und Vergnügungsstätten" zu befolgen. Beglaubigt wurde dieses kollektive Bekenntnis "mit einem dreifachen, begeistert aufgenommenen Hoch auf das deutsche Volk und die deutsche Republik. Stehend wurde darauf unter Orgelbegleitung die neue deutsche Nationalhymne 'Deutschland, Deutschland über alles' gesungen."
Gesungen wurden an diesem Abend aber nicht nur die drei Strophen des von Hoffmann von Fallersleben verfassten Liedes der Deutschen. So berichtet die Essener Allgemeine Zeitung, dass schon "vor dem offiziellen Beginn" der Kundgebung die Wacht am Rhein "angestimmt und von der ganzen Versammlung stehend gesungen" worden sei.[5] Im Anschluss an die Veranstaltung im Saalbau verlagerte sich der Protest dann spontan auf die Straße: "Auf der Huyssenallee und verschiedenen Hauptstraßen der Stadt setzte sich die Kundgebung unter Absingung vaterländischer Lieder in einer Reihe von Umzügen fort, ohne daß es zu irgendwelchen Störungen gekommen ist."
Französische Truppen marschieren in Essen ein. | Bildquelle: © Alfred Mildner/Fotoarchiv Ruhr Museum Auch am folgenden Tag ging es sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite nicht ohne Musik zu. Als französische Truppen am Morgen des 11. Januar "aus der Richtung Düsseldorf gegen Essen vorrückten", die Ruhr bei Kettwig und Mülheim überquerten und mit Radfahrern, Infanterie, Kavallerie, modernen Panzern, Lastautos und anderen Fahrzeugen auf unterschiedlichen Wegen nach Essen einmarschierten[6], erklang zumindest zeitweise "voraus Musik". So titelte die in Berlin erscheinende Deutsche Allgemeine Zeitung am folgenden Morgen reißerisch: "Mit Musik und Panzerwagen!" – verriet ihrer Leserschaft allerdings nicht, was genau die französischen Truppen gespielt oder gesungen hatten.[7] Am frühen Nachmittag war dann das gesamte Stadtgebiet besetzt. Die Militärführung begann damit, sich im Villenviertel Bredeney einzurichten, und die öffentlichen Gebäude, der Bahnhof und die Straßenkreuzung wurden durch "Posten mit aufgepflanzten Bajonetten" gesichert.[8] Die Stadtbevölkerung blieb zunächst weitgehend ruhig. Wie vom Reichspräsidenten gefordert und in der Bürgerversammlung bekräftigt, stellte sie sich den Besatzungstruppen nicht entgegen. Doch am Ende des Tages wich die auferlegte Zurückhaltung. "Ganz Essen war abends auf den Beinen", berichtet das Berliner Tageblatt: "Eine gewisse Erregung" hatte sich breitgemacht, und die "gesamte Polizei war aufgeboten, um die Ordnung aufrechtzuerhalten".[9] Eine der schärfsten Provokationen ging dabei von jenem antifranzösischen Lied aus, das am Vorabend die im Saalbau versammelten Bürger und Bürgerinnen spontan gesungen hatten. In unmittelbarer Nähe der französischen Soldaten stimmte ein "Trupp junger Leute", das antifranzösische Kampflied Die Wacht am Rhein an. Um Auseinandersetzungen zu verhindern, schritt die deutsche Schutzpolizei sofort ein und drängte die Sänger rasch "von der Hauptstraße zurück".[10]
Während die französischen und belgischen Truppen in den folgenden Tagen die Besatzungszone im Ruhrgebiet ausweiteten, wurde ganz Deutschland von einer Welle des Nationalismus erfasst, und im Berliner Politikbetrieb schlossen sich die Reihen. Am 13. Januar protestierte Reichskanzler Cuno im Reichstag gegen die Besatzung und formulierte mit Unterstützung fast aller Parteien und Abgeordneten das Konzept des "passiven" bzw. "moralischen" Widerstands.[11] Die Reichsregierung könne sich zwar "gegen diese Gewalt nicht wehren", sei "aber nicht gewillt, sich dem Friedensbruch zu fügen oder gar […] bei der Durchführung der französischen Absichten mitzuwirken".[12] In Anlehnung an die bereits erfolgten Aufrufe solle die Bevölkerung im Ruhrgebiet weiterhin auf (physische) Gewalt verzichten, den Forderungen der Besatzungsmacht aber – wenn irgend möglich – nicht nachkommen und ihren Protest im Rahmen der deutschen Rechtsordnung zum Ausdruck bringen.
Dass Musik und insbesondere der Gesang von Anfang an ein zentraler Bestandteil dieses Widerstands waren, ist nicht überraschend.[13] Singen konnte man jederzeit und nahezu an jedem Ort, ohne dabei auf Hilfsmittel angewiesen zu sein. Als soziale Aktivität setzte der gemeinsame Gesang die Singenden miteinander in Beziehung und bot die Möglichkeit zur kollektiven Selbstvergewisserung. Als performative Praxis war er ein wirksames Vehikel, um tatsächliche oder vorgebliche Einheit und Stärke zu demonstrieren und die nationale Identität mit musikalischen Mitteln zu inszenieren. Bestimmend für den Einsatz von Musik und ihre Rezeption waren außerdem eine Reihe weiterer Faktoren: ihre emotionale Wirkung und symbolische Kraft, ihre semantische Offenheit und inhaltliche Ambiguität (im Falle militaristischer und teils dezidiert antifranzösischer Gesänge wie der Wacht am Rhein mit eindeutigen Botschaften kam dieser Aspekt natürlich kaum zum Tragen), aber auch ihre im Lauf der Rezeptionsgeschichte beständig anwachsende historische Sättigung. Kurz: Musik war und ist ein wirksames Mittel, um den Widerstand und die eigene politische Überzeugung zum Ausdruck zu bringen und den Gegner (in diesem Fall die Besatzungsmacht) ohne den Einsatz physischer Gewalt zu irritieren, zu provozieren oder ideell anzugreifen. Wie vielfältig dieses historisch und kulturell aufgeladene Protestmittel einsetzbar war und wie weit die Politisierung und ideologische Vereinnahmung von Musik und Kultur mitunter gehen konnte, lässt sich anhand der Ruhrbesetzung exemplarisch studieren.
Ein erstes Großereignis, das die zentrale Rolle der Musik im passiven Widerstand eindrücklich dokumentiert, fand am 14. Januar 1923 statt. Noch am Tag des Einmarsches erklärte die Preußische Staatsregierung gemeinsam mit der Reichsregierung den folgenden Sonntag zu einem nationalen Trauertag.[14] (Das Rheinisch-Westfälische Industriegebiet – so der damals gängige Name der Region – war Teil der Preußischen Rheinprovinzen.) In reichsweiten Veranstaltungen sollte der Widerstandswille des deutschen Volkes demonstriert werden. Zugleich ging es darum, den Schulterschluss zwischen Politik und Bevölkerung zu stärken, die Besatzung mit vereinter Stimme anzuprangern und sich nachdrücklich mit der Bevölkerung der besetzten Gebiete zu solidarisieren. Höhepunkt der zahllosen politischen Veranstaltungen, auf den sich auch die Aufmerksamkeit der nationalen und internationalen Presse richtete, war eine Protestkundgebung im Zentrum der Reichshauptstadt. Gemäß der beabsichtigten Bündelung aller Kräfte wurde sie von den bürgerlichen Parteien gemeinsam mit Verbandsvertretern und den Kirchen geplant. Lediglich die Sozialdemokraten und Kommunisten zogen es vor, am Trauersonntag "auf eigene Faust" zu protestieren, weil sie mit den am Tisch sitzenden Deutschnationalen "nichts zu tun haben" wollten.[15] Um noch mehr Menschen die Teilnahme zu ermöglichen, wurde die im Lustgarten geplante Veranstaltung kurzfristig auf den Königsplatz verlegt.[16]
Nationaler Trauertag 14.1.1923 - Menschen singen bei Protestkundgebung in Berlin | Bildquelle: © Library of Congress, Prints & Photographs Division, [reproduction number, e.g., LC-B2- 5919-14] Tatsächlich erschienen am späten Vormittag des 14. Januar – einem sonnigen, "angenehm warmen" Tag "wie in Barcelona im Winter"[17] – weit über 100.000 Menschen auf dem heutigen Platz der Republik direkt vor dem Reichstag. (Die Schätzungen der Berichterstatter gingen wie üblich auseinander und reichten bis zu einer halben Million.[18]) Laut der Darstellung der Vossischen Zeitung, dem traditionsreichen Sprachrohr des liberalen Bürgertums, hatten sich diesmal "nicht bloß Radikale beider Flügel" versammelt, sondern die "große Masse des besonnenen deutschen Volkes".[19] Die Liste der Redner, die zeitgleich an verschiedenen Orten sprachen (leistungsstarke technische Mittel zur Verstärkung gab es damals noch nicht), war ebenfalls breitgefächert.[20] Sie reichte von Abgeordneten des nationalkonservativen Lagers (DNVP), die zum Teil völkische, antisemitische und monarchistische Ansichten vertraten, über Vertreter der christlich-konservativen Zentrumspartei bis zu Abgeordneten der liberalen Parteien. So sprach für die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) Gustav Stresemann, der achteinhalb Monate später in seiner neuen Funktion als Reichskanzler das Ende des passiven Widerstands verkünden sollte.
In ihrem Ablauf ähnelte die Berliner Kundgebung der Protestversammlung, die die Essener Bürgerschaft am Vorabend der Besatzung abgehalten hatte. Direkt nach den Reden wurde eine "Resolution verlesen". Der kurze Text prangerte in scharfen Worten „die ungeheuerliche Vergewaltigung des deutschen Volkes durch die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets“ an und mündete in den Worten: "Das deutsche Volk lehnt es ab, unter dem Druck der Bajonette Sklavenarbeit für Friedensbrecher zu leisten."[21] Wie diverse Zeitungen berichteten, löste insbesondere der letzte Satz "einen wahren Beifallssturm aus und es gab recht kräftige Rufe gegen die Franzosen und Belgier. Dann aber stimmte die Musikkapelle das Lied 'Deutschland, Deutschland über alles' an und die Hundertausende sangen entblößten Hauptes alle Verse der Nationalhymne."[22]
Die Kundgebung mit dem Lied der Deutschen zu beenden, lag nahe. In seiner Funktion als Nationalhymne war es nicht nur ein Bekenntnis zu Deutschland, sondern auch zum deutschen Staat und zur demokratischen Grundordnung der Weimarer Republik. Bei der Essener Protestversammlung war dieser Deutungskontext durch die vorherigen Hochrufe auf "das deutsche Volk und die deutsche Republik" herausgestellt worden. Bei der Berliner Kundgebung hingegen dominierten von Anfang an Töne, die die Nationalhymne in ein anderes Licht rückten. Noch bevor das um 12 Uhr beginnende "Trauergeläut von sämtlichen Berliner Kirchen" verklungen war,[23] spielte "eine auf der Rampe des Reichstags stehende Kapelle" das Niederländische Dankgebet, "das von den Massen entblößten Hauptes mitgesungen wurde."[24] Den symbolträchtigen offiziellen Auftakt bildete somit ein Lied, das wohl bei den meisten Versammelten Erinnerungen ans Deutsche Kaiserreich weckte: Es war eines der Lieblingslieder Wilhelms II. und wurde beim Großen Zapfenstreich sowie offiziellen Feierlichkeiten gespielt. Zugleich nahm die religiös aufgeladene Kriegsrhetorik des Textes – mit Gott zum Sieg gegen die Feinde, könnte man die Kernbotschaft überspitzt zusammenfassen – jenes aggressive Register voraus, das auch die begeistert aufgenommene Resolution gegen die Besatzung prägte und die Schmährufe gegen Franzosen und Belgier vor dem Erklingen der Nationalhymne provozierte.
Französische Soldaten mit Musik in Essen | Bildquelle: © Fotograf unbekannt/Fotoarchiv Ruhr Museum Zum Ausdruck gebracht wurden diese Ressentiments und chauvinistischen Botschaften bereits vor der Eröffnung der Veranstaltung. So berichtet das Berliner Tageblatt: "Schon lange vor dem offiziellen Beginn, den Fanfarentöne kundgaben, sangen die Massen patriotische Lieder und es fehlte auch nicht an kräftigen Rufen gegen die 'Eroberer' des Ruhrgebietes."[25] Und auch nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne war das Bedürfnis offensichtlich groß, das Nationalgefühl, den Hass gegen die französische Besatzungsmacht und den eigenen Kampfeswillen mithilfe geschichtsträchtiger "vaterländischer" Gesänge zu formulieren. "Eigentlich hätte die Kundgebung jetzt ihr Ende erreichen sollen", heißt es im selben Artikel, "aber die Massen wichen und wankten nicht, sondern spontan aus der Menge heraus tönte die 'Wacht am Rhein', die ebenfalls begeistert von allen Anwesenden gesungen wurde. Dann folgte 'Ein feste Burg ist unser Gott' und unter ungeheurem Jubel der Riesenmenge spielte die Kapelle 'Haltet aus in Sturm und Braus', dessen sämtliche Strophen von den Massen gesungen wurden."
Wie ausgeprägt der Hass auf die Besatzer bei einigen Teilnehmern war und wie rasch – angestachelt durch chauvinistische Gesänge – die Grenze zwischen verbaler und tatsächlicher Gewalt mitunter überschritten wurde, beschreibt Eugeni Xammar. Der in Barcelona geborene Journalist war einer der geistreichsten Chronisten des Jahres 1923. Mit dem unbestechlichen Blick eines außenstehenden und zugleich mit dem Land bestens vertrauten Beobachters analysierte er die Entwicklungen in Deutschland in scharfsinnigen, pointierten und nicht selten von Skepsis und ironischer Distanz geprägten Artikeln.[26] In einer Reportage über die Berliner Reaktionen auf die Ruhrbesetzung und den Trauertag berichtete er den Leserinnen und Lesern von La Veu de Catalunya, dass "eine Reihe entschlossener junger Leute" im Anschluss an die Kundgebung versucht habe, vor dem Sitz der Interalliierten Militär-Kontrollkommission zu demonstrieren. Als die Polizei das Gebäude am Potsdamer Platz abriegelte, "ging die patriotische Jugend dazu über – wie es in diesen Fällen guter alter Brauch ist – Jagd auf jeden zu machen, der wie ein Ausländer aussah. Es setzte ein paar wahllos verteilte Püffe gegen ein halbes Dutzend Juden, ein paar Portugiesen und den ein oder anderen Balkanesen … Als es dunkel wurde, gingen alle Demonstranten nach Hause, selbst die patriotischsten."[27]
Als die Preußische Staatsregierung den 14. Januar kurzfristig zum nationalen Trauertag erklärte, machte sie deutlich, dass sich die reichsweiten Protestmaßnahmen nicht auf Kundgebungen und Demonstrationen beschränken sollten. Als Zeichen der Trauer und Solidarität sei "auf allen Dienstgebäuden halbmast zu flaggen". Und auch die Kultur- und Unterhaltungsindustrie müsse an diesem Tag ihr Programm anpassen: "Theateraufführungen sowie Vorführungen von Lichtbildern und Lichtspielen haben zu unterbleiben, sofern nicht der ernste Charakter der Veranstaltung gewahrt ist. Verboten sind alle öffentlichen Tanzveranstaltungen, Bälle und Lustbarkeiten."[28] Dass dieser staatliche Regulierungsversuch Irritationen auslöste und mitunter zu abstrusen „Lösungen“ führte, ist nicht verwunderlich. So erklärte der Verband Berliner Bühnenleiter in einem offenen Brief, man habe alles in Bewegung gesetzt, um das Repertoire für den Trauersonntag anzupassen. Allerdings seien insbesondere die Berliner Operettentheater "zu ihrem Bedauern nicht in der Lage, infolge der Kürze der Zeit andere als die angekündigten Stücke aufführen zu können". In Zeiten der Wirtschaftskrise käme die komplette Einstellung des Spielbetriebs an einem Sonntag leider ebenfalls nicht infrage. Um dem "Charakter des Tages" trotzdem Rechnung zu tragen, habe man sich dazu entschieden, in diesen Fällen vor Vorstellungsbeginn eine "ernste Feier" durchführen. Und die Deutsche Allgemeine Zeitung, die die Stellungnahme des Verbandes der Bühnenleiter abdruckte, ergänzte, dass Theaterleitungen, die nicht sicher seien, ob ihre Produktion dem "ernsten Charakter" des Tages entspreche, sich zur Abklärung "unmittelbar an Abteilung III des Polizeipräsidiums Berlin" wenden könnten.[29]
Programmzettel des Sonderkonzerts der Berliner Philharmoniker am 14. Januar 1923 mit geändertem Programm | Bildquelle: © Archiv Berliner Philharmoniker Tatsächlich war das Berliner Kultur- und Unterhaltungsprogramm am Trauersonntag bunt gemischt. Während sich die Massen am späten Vormittag zur Protestkundgebung vor dem Reichstag versammelten, spielten die Berliner Philharmoniker unter Leitung ihres neuen Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler ein Sonderkonzert in der alten Philharmonie. Aufgeführt wurde das Programm des am nächsten Abend regulär stattfindenden 6. Philharmonischen Konzerts mit einer bedeutsamen Modifikation. Statt mit der 5. Sinfonie in e-Moll von Tschaikowsky zu enden – einem Werk, das dem "ernsten Charakter" des Tages durchaus entsprochen hätte, allerdings das "Manko" besaß, nicht von einem deutschen Komponisten verfasst worden zu sein –, nahm Furtwängler "im Einverständnis mit dem Orchestervorstand" eine kurzfristige Änderung vor und dirigierte an beiden Tagen Beethovens Eroica. Beim Publikum fand diese auf den bereits gedruckten Programmzetteln handschriftlich vermerkte Änderung offensichtlich Anklang.[30] So berichtet ein Kritiker: "Der warme Dank der Hörer war ein deutliches Zeichen des Verständnisses für diesen künstlerischen Mahnruf zur Sammlung und Konzentration aller verfügbaren Kräfte, um diese Uebergangszeit der wirtschaftlichen und politischen Bedrängnis standhaft zu überwinden."[31] Ähnlich verfuhren andere große Häuser. Am Staatlichen Schauspielhaus nahm man den "Possenabend 'Alt-Berlin'" für eine ganze Woche vom Programm und gab in den Kammerspielen "in Abänderung des Spielplans" Schillers Kabale und Liebe. In der Großen Volksoper spielte man abends wie geplant Wagners Lohengrin, ließ eine "für den Nachmittag angesetzte Tanzmatinee" hingegen ausfallen.[32]
Auch in den Lichtspieltheatern kam es zu Programmanpassungen. "Das Kino in meinem Viertel bescherte uns statt der Komödie Die Tochter Napoleons eine Reihe von Filmen über den Walfang, das Leben der Schildkröten und die Kaffee-Ernte in Brasilien", bemerkte Eugeni Xammar ironisch.[33] Und die Essener Astra Lichtspiele warben in einer Anzeige, dass sie anlässlich des Nationaltrauertages "telegraphisch unter großen Geldopfern" das sechsaktige Filmdrama Joseph erworben hätten. Das "erstklassige Werk" werde von einem "verstärkten Orchester" mit einer "würdigen Musikbegleitung" versehen. Diese umfasse Auszüge aus Schuberts "Tragischer Symphonie", die Leonoren- und die Egmont-Ouvertüre von Beethoven sowie das auch auf der Berliner Kundgebung gespielte und gesungene Niederländische Dankgebet.[34] In der Mehrzahl der Kinos und kommerziellen Theater lief allerdings das reguläre Programm. Wer sich in Essen – wo die Besatzungsbehörde sämtliche Protestkundgebungen untersagt hatte – ablenken wollte, konnte in Das blonde Verhängnis das "Liebesschicksal einer Zirkusreiterin" verfolgen oder sich mit "Chaplin als Wurstmaxe" amüsieren.[35] In Berlin ging es nicht anders zu: "In der Morgenpost von heute ist man empört", berichtete Eugeni Xammar nach Katalonien: "Unter den Stücken, die gestern in den Berliner Theatern aufgeführt wurden, hat man folgende Titel entdeckt: Bigamie, Der Mustergatte, Die Kokotte Dissy, Madame Pompadour, Dein Mund ist bezaubernd, Hals über Kopf, Dorinas Missgeschicke, Marietta, Für eine Millionen, Ein Jahr ohne Liebe, Verheiratet mit deiner Frau, Das Mädchen will nichts davon wissen und so weiter und so fort. Zwar hat in allen diesen Theatern vor Beginn der Aufführung ein Vertreter des Hauses vor geschlossenem Vorhang eine patriotische Rede gehalten. 'Aber das', schreibt die Morgenpost, 'ist keine Entschuldigung dafür, die Gefühle der Bevölkerung zu verletzen.'"[36]
Zumindest in einigen Fällen kam es bereits während der Vorführung zu Auseinandersetzungen. So berichtet die Vossische Zeitung über einen Vorfall, der sich am Trauertag in einem Berliner Kino ereignet habe: "Zuerst gab es einen ersten Film, in dem sogar ein Toter vorkam, und alles war zufrieden. Dann aber kam ein Lustspiel zur Aufführung und hier erhob sich Widerspruch im Publikum. Einige Leute standen auf, jemand erklärte, alle anständigen Menschen sollten das Theater verlassen, worauf andere, die bleiben wollten, heftig erwiderten. Wortwechsel, Krach, mühsame Beruhigung."[37] Paul Schlesinger, Gerichtsreporter des liberalen Blattes, der sich nebenbei auch als Lustspielautor und als Theater- und Musikkritiker betätigte, nahm diese Begebenheit zum Anlass, um den Sinn der staatlichen Verordnung zu hinterfragen. Unter dem Titel "Die Trauer und das Vergnügen" führte er die Vorgabe, dass nur Werke "ernsten Charakters" aufgeführt werden sollten, ad absurdum, indem er mögliche Kriterien für eine solche Entscheidung kritisch diskutiert. Als Beispiele zog er neben Klassikern des Theater- und Opernrepertoires auch Eugène d'Alberts Erfolgsoper Tiefland (UA 1903) sowie die Operette Madame Pompadour von Leo Fall heran. Bei Letzterer handelte es sich um einen Kassenschlager des auf Operetten spezialisierten Berliner Theaters, in dem Fritzi Massary – unangefochtener Star der damaligen Operetten- und Revueszene – in die Rolle der liebeshungrigen Mätresse Ludwigs XV. schlüpfte und dem Publikum mit Nummern wie "Joseph, ach Joseph, was bist du so keusch?" den Kopf verdrehte: "Sollen wir wirklich nach dem rein stofflichen Charakter eines Stückes urteilen, dann ist am Tage der Landestrauer […] 'Minna von Barnhelm' oder 'Figaros Hochzeit' zu verbieten. Die Unterscheidung vom rein künstlerisch-literarischen Standpunkt ist noch gefährlicher, da hier der subjektiven Auslegung alle Türen geöffnet sind. Denn hier könnte jemand mit Recht sagen, 'Madame Pompadour' sei eine ausgezeichnete Operette, habe also Kunstwerkcharakter und sei zu erlauben, während der tragische Schmarrn 'Tiefland' zu verbieten sei."[38] Fazit: Da man im Theater sein Vergnügen suche, wäre es an einem solchen Tag vielleicht angemessener, gar nichts zu spielen.
Eugeni Xammar hingegen bereiteten die Paradoxien, die aus dem staatlichen Regulierungsversuch erwuchsen, und die von der Morgenpost beklagte "Verletzung patriotischer Gefühle" vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Attacken, die "die patriotische Jugend" nach Ende der Trauerkundgebung verübte, eine gewisse Genugtuung: "Solange es Deutsche gibt, die glauben, die Besetzung des Ruhrgebiets durch die französische Armee sei Grund genug, Ausländer durch die Straßen von Berlin zu jagen, finde ich es großartig, dass es Deutsche gibt, die am nationalen Trauertag Dein Mund ist bezaubernd oder Verheiratet mit deiner Frau ansehen. Das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit."[39]
Dass patriotischer Lieder das am meisten genutzte musikalische Protestmittel während der Besatzungszeit waren, steht außer Frage. Allerdings hatte sich bereits am Trauersonntag gezeigt, dass die Politisierung von Musik und Kultur viel umfassender war und sich in allen Sparten manifestierte. Auf der einen Seite war man in den besetzten Gebieten bemüht, den regulären Betrieb auch unter schwieriger werdenden Bedingungen so gut wie möglich aufrechtzuerhalten, das Programmangebot größtenteils in der geplanten Form umzusetzen und sich einer allzu direkten politischen Vereinnahmung zu entziehen. Auf der anderen Seite betonte man die existenzielle Rolle von Musik in Krisenzeiten, richtete einen besonderen Fokus auf das deutsche Repertoire, um zur nationalen Selbstvergewisserung beizutragen, und bemühte sich darum, den passiven Widerstand zu stärken. So verschob das Städtische Orchester Essen sein erstes Abonnementkonzert nach dem Einmarsch der französischen Truppen kurzerhand um einige Tage und konzipierte es neu. Statt des ursprünglich geplanten Programms (unter anderem war eine Orchestersuite des italienischen Komponisten Ottorino Respighi angekündigt) spielte der 1899 gegründete Klangkörper unter Leitung seines Chefdirigenten Max Fiedler am 18. Januar 1923 drei Schlüsselwerke des deutschen Repertoires: Schuberts "Unvollendete", Brahms 4. Sinfonie und zu Beginn Beethovens Ouvertüre zu Egmont – der "Dichtung vom lastenden Schicksal und der schließlichen Befreiung", wie ein Kritiker der Essener Allgemeinen Zeitung seiner Leserschaft mitteilte.[91] Das spektakulärste Ereignis in diesem Zusammenhang war jedoch eine sorgfältig vorbereitete und wirkungsvoll inszenierte Konzertreise, die Musiker von drei Ruhrgebietsorchestern Anfang März gemeinsam nach Berlin unternahmen.[92]
In der Reichshauptstadt wird es manche verwundert haben, dass in einer Region, die in erster Linie als Rohstofflieferant und wirtschaftliches Herzstück Deutschlands bekannt war, mehrere Orchester auf engem Raum koexistierten. Tatsächlich gab es neben Essen auch in Dortmund bereits seit 1887 ein Orchester, das seit 1920 von dem Städtischen Musikdirektor Wilhelm Sieben geleitet wurde. Das Städtische Orchester Bochum hingegen war erst 1919 auf der Grundlage einer bereits bestehenden ortsansässigen Kapelle ins Leben gerufen worden.[93] Als ersten Kapellmeister engagierte man im selben Jahr den jungen Rudolf Schulz-Dornburg, einen Fürsprecher der Moderne, der eine Reihe von avancierten Programmen realisierte, die auch überregional Aufmerksamkeit erregten, zum Beispiel im Dezember 1923 zwei Abende, an denen er gregorianische Musik und neue Werke der "klassizistischen Moderne" gegenüberstellte.[94]
Dass zu Hochzeiten der Ruhrkrise über 100 Musiker aus drei Orchestern mit ihren Chefdirigenten nach Berlin reisten, um dort als "vereinigter" Klangkörper in Erscheinung zu treten, war ein hochsymbolischer Akt, der zweifellos aus der Not geboren war. In den besetzten Gebieten wurden die Lebensbedingungen für die Zivilbevölkerung von Woche zu Woche prekärer. Zugleich stieg die Kostenlast für die Finanzierung des passiven Widerstands kontinuierlich und heizte die Hyperinflation in ganz Deutschland weiter an, denn unter anderem mussten die wachsende Zahl ausgewiesener Beamter und Angestellter sowie die von den Zechenschließungen betroffenen Arbeiter versorgt werden.[95] Vor diesem Hintergrund verfolgte die ungewöhnliche Tournee eine mehrfache Zielsetzung. Als monumentales "Ruhrorchester" wollte man – wie es in einer Ankündigung heißt – "in der Hauptstadt des Reiches Zeugnis ablegen für die Gemeinschaft und unzerstörbare Einheit allen deutschen Schaffens".[96] Konkret ging es um die Inszenierung von Zusammenhalt durch die symbolische Bündelung der Kräfte, um die Sichtbarmachung des Ruhrgebiets im politischen Zentrum des Deutschen Reiches und um die damit verbundene Einforderung von Solidarität. Zugleich wollte man ein Zeichen für die essenzielle Bedeutung der Kunst in den besetzten Gebieten setzen und mit dem Erlös des Sonderkonzerts, der an die "Ruhrspende" floss, die notleidende Bevölkerung unterstützen.
Gefördert wurde dieses ambitionierte Vorhaben von prominenten Fürsprechern. Verantwortlich für die Ausrichtung der "Orchesterfahrt" und die Gestaltung der Berliner Veranstaltungen war das Büro des Reichskunstwarts Edwin Redslob, der in der Weimarer Republik für die "künstlerische Formgebung des Reiches" (Gestaltung von Staatsfeiern, Staatswappen etc.) zuständig war und etwa auch Eberts Präsentation des deutschen Nationallieds bei der Feier zum dritten Verfassungstag inszeniert hatte. Einem eigens gebildeten Ehrenausschuss gehörten neben dem Reichspräsidenten und dem Reichskanzler zahlreiche berühmte Künstler an, darunter Wilhelm Furtwängler, Hans Pfitzner, Franz Schreker, Max Liebermann und Max Reinhardt.[97]
Welch hohe kulturpolitische Bedeutung der ungewöhnlichen Konzertreise zugesprochen wurde, zeigt die Tatsache, dass man am Vorabend des Konzerts im Sitzungssaal des Reichstags eine vom Reichskunstwart gestaltete Empfangsfeier für die Gäste aus dem besetzten Gebiet veranstaltete. Während der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Otto Boelitz in einer längeren Rede die "innige Verflechtung von Arbeit und Kunst" im Rheinland pries, stellte Reichsinnenminister Oeser von der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) die kulturpolitische Stoßrichtung des Projekts gleich zu Beginn heraus. Laut eines Berichts in der Deutschen Allgemeinen Zeitung proklamierte er die Überlegenheit des "deutschen Geistes" über die französische Militärgewalt und betonte die essenzielle Rolle, die der Kunst im passiven Widerstand zukomme: "Wir werden bis zur Sicherung unserer freien Existenz unsere Kultur der französischen 'Zivilisation mit der Reitpeitsche' gegenüberstellen."[98] In einer Dankesrede bekräftigte der Bochumer Dirigent Rudolf Schulz-Dornburg den Glauben an den Vorrang und die Einzigartigkeit der deutschen Kulturnation und ihrer musikalischen Heroen, schlug aber weniger kämpferische Töne an. Mit eindringlichen Worten beschwor er die Bedeutung der Musik als Rückzugsort und Mittel zur moralischen Erbauung: "Was tun die Menschen in unserem Land, die von den Bajonetten bedroht werden, in ihrer seelischen Bedrückung? Sie gehen in die Konzerte und lassen sich Bruckner und Beethoven vorspielen. Daran halten sie sich aufrecht. Tausende von Menschen kommen zu uns. Wir müssen immer wieder aufs neue Veranstaltungen geben. Und wir erleben immer wieder mit Staunen und Bewunderung, daß für alle diese die Musik nicht nur Modesache ist, sondern daß sie einzig und allein um der Musik willen kommen."[99]
Bei dem eigentlichen Hauptereignis, einem sonntäglichen Matineekonzert der vereinten Orchester am 4. März im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, wurden diese kulturpolitischen Botschaften öffentlichkeitswirksam inszeniert. In der Mittelloge des "nahezu bis auf den letzten Platz gefüllten" Großen Saals hatten der Reichspräsident sowie zahlreiche hochrangige Politiker und prominente Ehrengäste Platz genommen. An der Wand hinter dem erhöhten Podium, auf dem die mehr als 100 Musiker saßen, prangten "die Farben der Republik, ein riesiger goldener Adler auf schwarzem Grunde, umrahmt von schwarzen und roten Stoffbahnen."[100] Auf dem Programm standen – wie zu erwarten – Werke der zentralen Repräsentanten der deutschen Musik: Das Adagio aus der 6. Sinfonie von Bruckner, dirigiert von Schulz-Dornburg; Beethovens 5. Sinfonie, geleitet von Wilhelm Sieben, sowie als Abschluss die 1. Sinfonie von Brahms, ein Paradestück des Essener Chefdirigenten Max Fiedler. Dass viele im Publikum die Sinfonien von Beethoven und Brahms nicht nur als Manifestationen "deutscher Schaffenskraft" verstanden, sondern ihre heroischen Züge und ihre finalorientierte Dramaturgie auf die gegenwärtige Situation bezogen, ist wahrscheinlich. "Krise und Überwindung" oder "durch Nacht zum Licht" lauten die Stichworte, die in zahlreichen zeitgenössischen Werkdeutungen zu finden sind.
Die einzige Überraschung des Konzerts war die Musik für Orchester von Rudi Stephan, die nach Bruckners Adagio unter der Leitung von Schulz-Dornburg erklang. Dass dieses kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Werk seinen Weg ins Programm finden konnte, war offensichtlich den widrigen Umständen geschuldet. So war eigentlich geplant gewesen, ein weiteres ikonisches Werk der deutschen Musik, nämlich Wagners Meistersinger-Ouvertüre zu spielen. Doch die "Verkehrsschwierigkeiten im Ruhrgebiet" führten dazu, dass "ein Notentransport nicht rechtzeitig in Berlin eingetroffen war und infolgedessen das ursprünglich vorgesehene Programm eine Abänderung erfahren musste".[101] Der leitende Musikkritiker der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Walter Schrenk, dankte Schulz-Dornburg ausdrücklich für die Entscheidung, stattdessen ein Werk der jüngeren Generation aufzuführen. Mit dem Stück des 1915 im Alter von 28 Jahren in Galizien gefallenen Komponisten sei der "übliche Schematismus der Festprogramme durchbrochen" worden, "und daß auch ein 'unvorbereitetes' Publikum willig und verständnisvoll mitgeht, bewies der begeisterte Beifall des Hauses."[102]
Am Ende des Konzertes kam es – wie in so vielen anderen Fällen – zu einer ungeplanten patriotischen Geste. "Als die letzten Töne verklungen waren, rasten nicht endenwollende Beifallsstürme durch das Haus", berichtet die Berliner Börsen-Zeitung: "Auch Reichspräsident Ebert erschien selbst auf der Bühne, um den Gästen die Hand zu schütteln. Spontan stimmten dann die Versammelten das 'Deutschlandlied' an, das von dem Orchester begleitet wurde."[103] Von der Macht nationaler Gefühle wurde offensichtlich auch der Kritiker des liberalen Berliner Tageblatts überwältigt. Erfüllt von dem Glauben an die einzigartige Qualität der deutschen Musik räsonierte er in seiner enthusiastischen Besprechung: "Als nach Schluss des Konzertes […] unser altes Haydn-Lied erklang, von tausend begeisterungsfreudigen Kehlen gesungen – da beherrschte alle nur ein Gedanke, nur ein Gefühl: die Liebe zur Heimat. Wohl kann sie überheblich und ungerecht gegen andere erscheinen. 'Ueber alles in der Welt.' Aber hätten wir auch nichts als unsere Tonheroen (in denen ja alles ruht, woran wir in Stunden der Erhebung denken) – dürften wir nicht mit Fug und Recht jene stolzen Worte singen?"[104]
Tobias Bleek leitet das Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr und ist Honorarprofessor für Musikwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste. Sein Buch "Im Taumel der Zwanziger. 1923: Musik in einem Jahr der Extreme" erschien im April 2023 bei Bärenreiter/Metzler. Beim Klavier-Festival Ruhr 2023 kuratiert er eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema. An der Gestaltung des BR-KLASSIK-Programmschwerpunkts "Der wilde Sound der 20er" ist er als konzeptioneller Berater beteiligt.
Buch-Cover "Im Taumel der Zwanziger" | Bildquelle: Bärenreiter Metzler
Tobias Bleek:
Im Taumel der Zwanziger
1923: Musik in einem Jahr der Extreme
320 Seiten; mit Abbildungen
Hardcover
Bärenreiter/Metzler
BVK02519
April 2023 erschienen
[1] Vgl. zur Vorgeschichte und zum Verlauf der Ruhrbesetzung Jones, 1923; Ullrich, Deutschland 1923, S.15–70; Krummeich / Schröder, Der Schatten des Weltkriegs; Winkler, Weimar, S. 186–243.
[2] Berliner Tageblatt, 10.1.1923.
[3] "Machtvolle Protestkundgebung der Essener Bürgerschaft", in: Essener Allgemeine Zeitung, 11.1.1923. Alle Zitate stammen aus diesem Artikel. Vgl. auch die Wochenausgabe des Berliner Tageblatts, die am 17.1.1923 auf ihrer Titelseite über die Veranstaltung berichtete.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Essener Allgemeine Zeitung, 12.1.1923.
[7] Deutsche Allgemeine Zeitung, 12.1.1923.
[8] Berliner Tageblatt, 12.1.1923.
[9] Ebd.
[10] Ebd.
[11] Vgl. Winkler, Weimar, S. 188 sowie Jones, 1923, S. 77 f.
[12] Zit. nach Jones, 1923, S. 77 f.
[13] Vgl. Zalfen / Müller, Besatzungsmacht Musik (dort insbesondere Kleiner, "Klänge von Macht und Ohnmacht"); Trieloff, "Die Nationalhymne als Protest?"; Niemöller, "Kultur als nationale Selbstvergewisserung".
[14] Bekanntmachung des Preußischen Staatsministeriums vom 11.1.1923, abgedruckt in: Berliner Tageblatt, 12.1.1923.
[15] Xammar, "Berlin und die Besetzung des Ruhrgebiets", veröffentlicht am 20.1.1923 in La Veu de Catalunya. Zit. nach ders., Das Schlangenei, S. 42.
[16] Vgl. zur ursprünglichen Planung Berliner Tageblatt, 12.1.1923.
[17] Xammar, Das Schlangenei, S. 42.
[18] Vgl. Deutsche Allgemeine Zeitung, 16.1.1923, aber auch Xammar, Das Schlangenei, S. 42.
[19] Vossische Zeitung, 15.1.1923.
[20] Vgl. zu den angekündigten Rednern Berliner Tageblatt, 12.1.1923.
[21] Berliner Tageblatt, 15.1.1923, Abendausgabe.
[22] Zit. nach ebd. Vgl. auch Deutsche Allgemeine Zeitung, 16.1.1923.
[23] Deutsche Allgemeine Zeitung, 16.1.1923.
[24] Berliner Tageblatt, 15.1.1923.
[25] Ebd.
[26] Vgl. die "Einleitung" von Heinrich von Berenberg zu Xammar, Das Schlangenei, S. 7–13.
[27] Ebd., S. 43.
[28] Veröffentlicht in: Berliner Tageblatt, 12.1.1923 S.3.
[29] Deutsche Allgemeine Zeitung, 14.1.1923.
[30] Vgl. Programmzettel zum 6. Philharmonischen Konzert der Saison 1922/23 mit Wilhelm Furtwängler, Archiv der Berliner Philharmoniker.
[31] Signale für die musikalische Welt 81/4, 24.1.1923, S. 111 f.
[32] Vgl. die entsprechenden Mitteilungen in der Vossischen Zeitung, 14.1.1923.
[33] Xammar, Das Schlangenei, S.43.
[34] Anzeige in der Essener Allgemeinen Zeitung, 14.1.1923.
[35] Ebd.
[36] Xammar, Das Schlangenei, S. 43 f.
[37] Paul Schlesinger, "Die Trauer und das Vergnügen", in: Vossische Zeitung, 16.1.1923.
[38] Ebd.
[39] Xammar, Das Schlangenei, S. 44.
[91] Essener Allgemeine Zeitung, 20.1.1923. Vgl. außerdem Programmzettel im Archiv der Essener Philharmoniker.
[92] Im Laufe des Frühjahrs veranstalteten die »vereinigten Ruhrorchester« noch eine zweite Konzertreise nach München. Vgl. hierzu Cunz, "Rheinisch-Westfälische Musikkultur", S. 69 ff.
[93] Vgl. zum Städtischen Orchester Bochum Schmidt / Weber (Hg.), Keine Experimentierkunst, bes. S. 37–43.
[94] Ebd., S. 168–174 sowie 257.
[95] Vgl. Ullrich, Deutschland 1923, S. 45 f. sowie 78 f.
[96] Handzettel "Orchesterfahrt der städtischen Musiker aus Essen, Dortmund und Bochum nach Berlin", Stadtarchiv Bochum, ZGS V G 1, abgedruckt in: Schmidt / Weber, Keine Experimentierkunst, S. 172.
[97] Vgl. ebd.
[98] Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.3.1923.
[99] Vorwärts, 4.3.1923, Morgenausgabe.
[100] Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.3.1923.
[101] Berliner Börsen-Zeitung, 5.3.1923.
[102] Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.3.1923.
[103] Berliner Börsen-Zeitung, 5.3.1923.
[104] Berliner Tageblatt, 5.3.1923, Abendausgabe.
Sendungen: "Piazza" am 14. Januar 2023 ab 8:05 Uhr und "KlassikPlus" am 17. Februar ab 19:05 Uhr und 18. Februar ab 14:05 Uhr auf BR-KLASSIK