Vor 100 Jahren wurde erstmals James P. Johnsons "Charleston" aufgenommen. Der Song machte gut ein Jahr später den gleichnamigen Tanz weltweit populär. Wie früher das Menuett und der Wiener Walzer steht der Charleston für eine ganze Epoche.
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Eine Szene, die allein bei dem Wort "Charleston" ganz schnell vor dem inneren Auge entsteht: Eine von Gangstern kontrollierte Kneipe während der Prohibition, illegaler Alkohol-Ausschank, eine lustvoll lärmende Jazzband und Frauen, die zu der rhythmisch ausgelassenen Musik mit den Armen rudern und die Hände effektvoll über den im schnellen Wechsel zu O-Beinen ausklappenden und dann wieder geschlossenen Knien verschränken. Dieser Tanz wurde populär durch einen Hit des Komponisten und virtuosen Pianisten James P. Johnson. Der war der Vater des Harlem Stride Piano, jenes aus dem Ragtime entwickelten Stils mit kantigen Bass-Akzenten und virtuosen Improvisationen, und damit einer der einflussreichsten Pianisten des frühen Jazz.
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Old Fashioned Love -"The Charleston"-The Ambassadors-1923
Bildquelle: Cecil Mack & Jimmy Johnson Doch James P. Johnson schrieb auch Songs. Und schon diese beiden hätten ihm den Weltruhm gesichert: "Old Fashioned Love" und "The Charleston". Am 3. Oktober 1923 können "The Ambassadors" - eine weiße Studio-Tanzband unter der Leitung von Louis Katzman - nicht ahnen, dass sie zwei Songs in einer Aufnahme vereinen, die zu den erfolgreichsten des 20. Jahrhunderts gehören werden. Der Tanz Charleston, der später geradezu zum Symbol der "Roaring Twenties" wurde, war da noch nicht en vogue. Das schwarze Musical "Runnin’ Wild" lief zwar schon in Washington und Boston, doch die Spatzen pfiffen den "Charleston" erst nach dem 29. Oktober von allen Dächern. Da kam die Show auf den Broadway, wo ihn Elisabeth Welch erstmals sang. Geschrieben hat Johnson den "Charleston" zusammen mit dem Texter Cecil Mack, der den ersten schwarzen Musikverlag gegründet hatte - und dessen Frau die erste afroamerikanische Zahnärztin war. Als Hit der Show war der Song "Old Fashioned Love" vorgesehen, der fast wie ein Volkslied klingt und weit über Jazzkreise hinaus populär wurde. Eher nebenbei stellten die "Ambassadors" auch "The Charleston" vor, als Einschub innerhalb von "Old Fashioned Love". Am 30. Oktober ist in der New York Times zu lesen, "Runnin' Wild" zeichne sich "durch exzentrische Tänze aus, einige der aufregendsten Schritte der Saison (Schritte ist nicht immer das richtige Wort, denn die Knie werden häufiger beansprucht als die Knöchel)".
Die New York Times erklärt 1926 den altfranzösischen Branle aus dem 16. Jahrundert zum Ahnen des Charleston – doch die Spuren führen nach Afrika. Schon um die Jahrhundertwende wurde ein ähnlicher Tanz praktiziert. Der Sänger Noble Sissle etwa will ihn 1905 in Savannah, Georgia, erlernt haben. Der "Charleston beat", zwei punktierte Viertel, gefolgt von einem Viertel im Viervierteltakt, deutet auf lateinamerikanischen Einfluss hin. Offiziell wurde der Charleston als Tanz im Frühling 1923 im schwarzen Musical "Liza" vorgestellt. Der Klarinettist Garvin Bushell und der Stridepianist Willie "The Lion" Smith erzählen in ihren Memoiren, der Charleston käme vom Geechie Dance. Die Geechies sind auch als Gullah bekannte Nachkommen von Sklaven auf den Sea Islands von Georgia, Florida und South Carolina, bei denen das afrikanische Erbe besonders stark erhalten geblieben ist. Beide erzählen von Russell Brown, einem bekannten Tänzer aus Charleston, South Carolina, den habe man in Harlem mit Sprüchen wie "Hey, Charleston, do your Geechie dance" angefeuert. Daher habe der Charleston seinen Namen. Die Herkunft von Hafenarbeitern aus dieser Gegend bestätigte Johnson: "Diese Leute kamen aus South Carolina und Georgia, wo der Cotillion beliebt war - und der "Charleston" war ein Abkömmling davon. Es war eine Tanzfigur wie der "Balmoral". Ein Großteil meiner Musik basiert auf Set, Cotillion und anderen südlichen Country-Tanzschritten und Rhythmen."
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The African-American Roots of the Charleston Dance
Seltsamerweise hat Johnson nie eine Studioplatte seines "Charleston" gemacht, doch es existieren zwei Klavierrollen von ihm und ein Livemitschnitt mit Sidney Bechet. Von 1925 an entstanden von Buenos Aires bis Berlin weltweit Aufnahmen davon, doch alle Aufnahmen des Songs aus den wilden Zwanzigerjahren ließen sich wohl bequem in ein, zwei Stunden durchhören. Die Flut an Versionen setzte erst in den 50er Jahren ein. Zwar ist es unzweifelhaft, dass der Charleston erst durch Johnsons zündende Melodie populär wurde, doch der erste Charleston-Komponist war nicht er, sondern wohl der Kornettist Thomas Morris. Was mag Morris bewogen haben, seine Band "Past Jazz Masters" zu nennen, was doch als frühere, vergangene oder ehemalige Jazzmeister zu übersetzen wäre? Sein Stück, das die Band im Februar 1923 eingespielt hat, war durchaus zukunftsweisend: der "Original Charleston Strut". Zunächst scheint es gar kein richtiger Charleston zu sein, doch ziemlich genau in der Mitte der Aufnahme, nach etwa anderthalb Minuten, hört man den unverkennbaren Charleston-Rhythmus.
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Thomas Morris Past Jazz Masters - Original Charleston Strut (February 1923)
Bildquelle: picture-alliance/dpa Obwohl Fletcher Henderson bereits im Herbst 1923 mehrere Versionen von "Charleston Crazy" auf Platte bannte, brach der weltweite Charleston-Rausch erst 1925 aus. Vor allem die afroamerikanische Tänzerin Josephine Baker war für den Sensations-Erfolg in Europa verantwortlich: Sie präsentierte den Tanz in den Folies Bergère in Paris. Die Meinungen zu dem Phänomen waren geteilt - bis in die Spitzen der Gesellschaft. Während der Prince of Wales begeistert vom Charleston war, verabscheute ihn die spanische Königin. Die Sowjets brandmarkten ihn als Ausdruck westlicher Dekadenz, ein polnischer Erzbischof als "unverzeihliche Sünde", doch oft hatte der Widerstand gar nichts mit den guten Sitten zu tun. Da nach diversen Charleston-Wettbewerben Teilnehmer zusammenbrachen oder gar starben und Tänzer, wie ein Pariser Arzt es 1928 nannte, ein Charleston-Knie entwickelten, betrachtete man den Tanz als gesundheitsschädlich. Mehr noch als öffentliches Sicherheitsrisiko! Die Zeitungen berichteten ja im Zusammenhang mit Charleston immer wieder von Unfällen: 1925 stürzte in Boston ein Dach ein, wobei 44 Charleston-Tanzende starben, 1926 ertranken sieben Jugendliche, weil man ihn auf einem Ruderboot getanzt hatte. Da führte zu Verboten, wie z.B. in der Tschechoslowakei und in der Türkei. In der Tat scheint der Charleston die Menschen zu Risiken verlockt zu haben; so zeigt ausgerechnet ein britischer Charleston-Lehrfilm von 1927 ein tanzendes Paar auf dem Dach eines fahrenden Autos!
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The Flat Charleston Made Easy (1927)
5. Oktober 2023 BR-Klassik, 23.05 – 0.00 All That Jazz: Eine Chronik des Jazz (33): "Old Fashioned Love" - Aufnahmen von September und Oktober 1923