Ein Ort fürs Morgige, für Visionen, Aufbruch, Neuerungen? Auf jeden Fall ein Synonym für Neue Musik: die Donaueschinger Musiktage. Alle waren sie hier: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono. Seit einem Jahrhundert wird hier alljährlich im Herbst Musikgeschichte geschrieben.
Bildquelle: dpa-Bildfunk/Ralf Brunner
100 Jahre Donaueschinger Musiktage
Festival zwischen Bratwurst und Boulez
Ein „badischer Festort“, an dem ein „künstlerisch-republikanisch gesinnte[s] Publikum“ einer „musikalisch vollkommene[n] Inszenierung“ von Musik lauscht. So blickte Thomas Mann im kalifornischen Exil gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf Donaueschingen. Genauer: So charakterisiert Adrian Leverkühn in Doktor Faustus das musikalische Festivalgeschehen in der abgelegenen Kleinstadt an der Brigach. Kurzer Gegenwarts-Check: Festort? – Na ja. Künstlerisch-republikanisch? – Hmm, zumindest: künstlerisch. Musikalisch vollkommen? – In jedem Fall!
In Schulsport- und Mehrzweckhallen, benannt nach Hindemith, Stockhausen und Schönberg, in Schwimmbad, Stall und Stadtpark reiht sich alljährlich im Oktober drei, in diesem Jahr sogar vier Tage lang eine Uraufführung an die nächste. Dargeboten von den besten Interpretinnen und Interpreten, die die Musikwelt zu bieten hat – in schmuckloser Atmosphäre belauscht von einem kritischen Publikum. Kritisch vor allem deshalb, weil es zu großen Teilen selber Neue Musik macht, verlegt, kuratiert oder darüber schreibt. Donaueschingen ist ein Szenetreff, mehr Messe als Bayreuth. Mit einem Publikum, das jünger ist als das durchschnittliche Klassik-Publikum, und dennoch: eingeschworen, blasig geschlossen. Und leidensfähig. Denn wer nach Donaueschingen reist, ist bereit noch ein paar mehr Strapazen auf sich zu nehmen, als stundenlang auf unbequemen Klappstühlen in Turnhallen zu hocken: Die Anreise ist kompliziert und langwierig, die Veranstaltungen sind über die Stadt verteilt und eng getaktet. Kulinarisch geht es eher in Richtung verfrorene Bratwurstpause. Und ein Zimmer im örtlichen Hotel bucht man sich am besten ein Jahr im Voraus. Mindestens. Wie gesagt: Messe.
Sie ist die Neue: Mit Lydia Rilling übernimmt ab kommendem Jahr erstmals eine Frau die Festivalleitung | Bildquelle: dpa-Bildfunk/SWR - Südwestrundfunk Und dennoch lohnt es sich, immer wieder. Denn in Donaueschingen zeigen Komponisten – und manchmal, wenn auch beschämend selten: Komponistinnen – ihre meist Jahre im Voraus bestellten Werke, einstudiert unter besten Probenbedingungen, und mit größtem Können präsentiert vom SWR Symphonieorchester unter namhaften Dirigenten wie Brad Lubman oder Sylvain Cambreling. Ensembles wie das Klangforum Wien, das Ensemble Modern oder das Ensemble Intercontemporain realisieren anspruchsvolle performancelastige Projekte, flankiert von Vorträgen, Podiumsdiskussionen und über die ganze Stadt verteilten und frei zugänglichen Klanginstallationen. Diese Ausgabe zum 100. Jahr des Bestehens steht noch unter der Ägide von Björn Gottstein, bevor im kommenden Jahr mit Lydia Rilling erstmals eine Frau die Leitung des Festivals übernimmt.
In historischen Rückblicken werden allzu oft die früheren Eklats besungen, häufig auch: vermisst. Das Skandalöse ist eine Zuschreibung, der das Festival vor langer Zeit entwachsen ist. Ob jemand ein Instrument zertrümmert wie 2012 der Komponist Johannes Kreidler oder Claqueure ein Stück zerklatschen und zerrufen wie 2017: Als Skandal liest solche Aktionen in Donaueschingen niemand mehr. Während es einen Pierre Boulez, einen Karlheinz Stockhausen und einen Luigi Nono Ende der 1960er noch aus ihren, na ja, Konzertsesseln nun gerade nicht, also: von ihren Klappstühlen riss, als sie Hans Werner Henzes Nachtstücke und Arien hörten, und die Herren demonstrativ den Saal verließen – das geht das heute nicht mehr. Also: das Demonstrative. Den Saal verlassen geht immer.
Noch ist Donaueschingen vor allem: Weiß und eurozentrisch. Doch das Programm 2021 wagt erstmals den Blick über den europäischen Tellerrand. | Bildquelle: © SWR/Klaus J.A. Mellenthin Die Donaueschinger Musiktage bespielen Werte wie Toleranz, sie implementieren gesellschaftliche Debatten und Entwicklungen wie Digitalisierung oder Künstliche Intelligenz, sie sind frei, offen und seit diesem Jahr auch bemüht um Dekolonisation. Unter dem Motto Donaueschingen global haben vier sogenannte Researcher in mehreren Etappen verschiedene Länder bereist, über deren experimentelle Musikszene hierzulande wenig bekannt ist. Und erstmals sind Komponisten und Ensembles aus Ländern wie Bolivien, Bahrain, Peru, Thailand oder Usbekistan nach Donaueschingen eingeladen. Der Blick geht ins Außen: vielleicht die größte Neuerung, zweifellos aber der notwendigste Aufbruch eines Festivals, das das Neue, den Aufbruch zum ureigenen Kern hat und das zugleich das traditionsreichste seiner Art ist.
Sendung:
"Allegro" am 14. Oktober 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
"Leporello" am 18. Oktober 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)