Dieser Abend war auf Überwältigung ausgelegt. Das knapp zweistündige Oratorium, das das Philharmonische Staatsorchester Hamburg bei Jörg Widmann in Auftrag gegeben hat, wurde am Freitag in der Elbphilharmonie unter der Leitung von Kent Nagano uraufgeführt. Die Überwältigung hat auch einigermaßen funktioniert: Am Ende klatschten die Hamburger eine Viertelstunde lang. Ein schaler Nachgeschmack blieb trotzdem.
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Diese Uraufführung in der neuen Elbphilharmonie durfte einfach nicht schief gehen - entsprechend monumental ging der Komponist Jörg Widmann bei seinem Oratorium "ARCHE" zu Werke. 300 Mitwirkende sprechen für sich, darunter zwei Chöre, Kinderchor, Solisten und so ziemlich alle denkbaren Instrumente, von der Glasharmonika über die Orgel und das Akkordeon bis hin zu einer Pistole. Eine Heerschar von Musikern also, und der große Wunsch, diese Musik möge von Herz zu Herzen gehen. Das schafft eine Bach-Kantate zwar mit wesentlich weniger Aufwand, aber Widmann hatte eben gewaltige Erwartungen zu erfüllen. Das gelang ihm auch: Alles hatte Platz in dieser überdimensionalen "ARCHE": die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut, die große Hamburger Oratoriums-Tradition, Klassiker wie Haydn und Beethoven, Publikumslieblinge wie Franz von Assisi, Matthias Claudius und Friedrich Schiller. Sie alle wurden über die eindreiviertel pausenlosen Stunden hinweg zitiert, ironisiert, gefeiert und beschworen.
Eine wahre Lawine abendländischer Kulturgeschichte wurde da losgetreten. Und um auch ganz sicher zu gehen, dass sein Oratorium Zuspruch findet, ließ Widmann Kinder die Bibel zitieren. Das Ganze gipfelte in einem Computer-Alphabet von A wie Apple bis W wie Website und dem längst mehrheitsfähigen Appell: "Nicht in Götter, in Euch selbst setzt Hoffnung!". Was das mit der Beschwörung von NATO und Pentagon zu tun hat, blieb offen.
Kein Zweifel, Widmann ist einer der souveränsten deutschen Komponisten der Gegenwart, er hat Humor, er kann Pathos, er langweilt nie. Für ihn ist die Elbphilharmonie eine Arche, ein Ort gelebter Demokratie, ein Schutzraum gegen die Boshaftigkeiten der Welt. Es war also eine Art Fan-Abend. Dennoch blieb bei dieser "ARCHE" ein etwas schaler Nachgeschmack: Mehr Pomp als Seele, mehr raffinierte Kalkulation als erschütterndes Weltgericht. Dirigent Kent Nagano war natürlich genau in seinem Element, er ist Spezialist für die Riesen-Partituren der Moderne, er behält in jedem Klangsturm den präzisen Überblick. Kombiniert mit der trennscharfen Akustik der Elbphilharmonie, wirkte das bisweilen kühl, ja reserviert.
Steril ist der Klang im viel gefeierten Saal nicht, aber sehr direkt, übergenau, schnell scharf, dafür beneidenswert wortverständlich. Eine Ausnahme-Akustik, keine Frage, und ein wirklicher Musiktempel, mit dem alle Mystiker und Melancholiker allerdings nicht glücklich werden dürften. Raunende, schattenhafte, verrätselte Hörerlebnisse erscheinen kaum denkbar. In dieser Saison setzt Hamburg sowieso auf Monumentalität. Es wird geklotzt, mit Bruckners und Mahlers Achter und Schönbergs "Gurreliedern". Jetzt wollen es die Kaufleute aber wissen.