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Filmkomponist Maurice Jarre zum 100. Geburtstag Der Sound Hollywoods

Drei Oscars, unsterbliche Melodien wie "Lara's Theme" aus "Doktor Schiwago" und filmische Meisterwerke mit Regisseuren wie Volker Schlöndorff, Alfred Hitchcock oder Luchino Visconti – der gebürtige Franzose Maurice Jarre ist einer derjenigen, die den großen symphonischen Sound Hollywoods geschaffen haben. Er konnte aber auch puristisches Klavier wie in "Die Blechtrommel". Musikalisch war er aber ein Spätberufener. BR-KLASSIK blickt zu seinem 100. Geburtstag auf Leben und Werk zurück.

Der französische Filmkomponist Maurice Jarre bedankt sich 2009 in Berlin während der ihm verliehenen Auszeichnung "Goldener Ehrenbär" mit ausgebreiteten Armen beim Publikum. Die Auszeichnung erfolgte im Rahmen der 59. Berlinale für das Lebenswerk des Künstlers. | Bildquelle: picture-alliance/ dpa | Soeren Stache

Bildquelle: picture-alliance/ dpa | Soeren Stache

Nicht auszudenken, wenn Maurice Jarres Vater, ein Rundfunkingenieur russischer Abstammung, diese alten Schellackplatten nicht gefunden und mit nach Hause gebracht hätte. Dann hätte der am 13. September 1924 in Lyon geborene Maurice Jarre wohl sein erstes Studium an der Sorbonne abgeschlossen und wäre Ingenieur geworden und den Musik-Oscar für "Lawrence von Arabien" hätten Aram Chatschaturjan oder Benjamin Britten eingeheimst.

Maurice Jarre - Musikalischer Spätzünder

Der damals 16-jährige Maurice hat keine Ahnung von Musik, er kann auch keine Noten lesen, aber diese Aufnahmen von Leopold Stokowski mit dem Philadelphia Orchestra, mit der 2. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt, die sein Vater mit nach Hause bringt, sind überwältigend. "Ich war hin und weg von all der Schönheit, den Klängen und der Musik. Und da war mir klar: Ich will Dirigent werden." Und obwohl alle um ihn es herum lächerlich finden, dass jemand, der nicht zwei Töne voneinander unterscheiden kann, Dirigent werden will, weiß Maurice Jarre: "Ich muss arbeiten. Und das tat ich auch, ich begann alles über Musik um mich herum in mich reinzufressen."

Lernen von Wilhelm Furtwängler

Ein befreundeter Dirigent rät Maurice Jarre, auch ein Instrument zu studieren, denn im Orchester zu spielen, sei die beste Methode zu lernen, wie man dirigiert. "Mit 16", erinnert sich Jarre in einem Interview, "war es einfach zu spät, noch ein guter Pianist oder dergleichen zu werden, also konzentrierte ich mich auf das Schlagzeug." Er wird tatsächlich am Pariser Konservatorium in den Studiengängen Harmonielehre und Percussion aufgenommen. Er studiert u.a. beim Dirigenten Charles Münch und beim Komponisten Arthur Honegger, finanziert sich das Studium durch Schlagzeug-Jobs in Pariser Nachtclubs und Bars und durch erste Orchestertätigkeiten. Eine davon ermöglicht ihm, von einem der größten Dirigenten des 20. Jahrhunderts zu lernen, wie Jarre einmal erzählt: "Ich hatte das Privileg, unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler zu spielen, eine unglaubliche Persönlichkeit, ein freundlicher Mensch. Bei den Proben lernte ich unfassbar viel von diesem großartigen Meister." 

Maurice Jarres Werkzeuge: Folklore, Schlagzeug und Theater

Dass Jarre so versiert im Komponieren zu Handlungen und Bildern wird, verdankt er einer seiner ersten Tätigkeiten: In den 1950ern wird er für zwölf Jahre der Leiter des Théâtre National Populaire. Dort lernt er, Musik zu Bildern zu erschaffen und zu orchestrieren. Die ersten Engagements beim Film folgen bald: Seine erste Filmmusik überhaupt schreibt er zum Film "La tête contre les murs" (1959).

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La tête contre les murs surprise-partie | Bildquelle: Maurice Jarre - Topic (via YouTube)

La tête contre les murs surprise-partie

Hier zeigen sich schon seine Wurzeln aus dem Studium, denn hier, wie in so vielen seiner Scores, ist das Schlagzeug Dreh- und Angelpunkt: Nicht nur "La tête contre les murs" fängt mit einem Schlagzeugsolo an, sondern auch zu David Leans "Lawrence von Arabien" und in der "Blechtrommel" wird getrommelt. Eine andere Stärke ist seine im Studium entdeckte Begeisterung für Folklore, wobei Jarre die indische, russische, südamerikanische und die arabische besonders gut erforscht und später virtuos in Filmmusiken einsetzt.

So etwa 1975 in der Rudyard-Kipling-Verfilmung "Der Mann, der König sein wollte". Dafür lässt Maurice Jarre sechs Musiker aus Indien, die etwa Sarangi oder Tablas spielen, zusammen mit dem mit dem London Symphony Orchestra ins Studio gehen. Weil die indischen Musiker die in Europa gängige Notenschrift nicht lesen können, schreibt Jarre die Partitur in für Indien gebräuchlicher Notenschrift um. Das Ergebnis: ein großartiger Soundtrack und Standing Ovations des London Symphony Orchestra für die indischen Kollegen nach dem letzten Take.

Drei Oscars für Maurice Jarre und David Lean

Für den Film "Lawrence von Arabien" (1962) sind auch Aram Chatschaturjan und Benjamin Britten als Komponisten im Gespräch. Maurice Jarre macht das Rennen und liefert für seinen internationalen Durchbruch die wohl vielschichtigste Musik in seiner Karriere: Arabische Folklore trifft auf britische Militärmärsche und das symphonische Hauptthema von wüstenhafter Weite – ein suggestives Klanggemälde für die Ewigkeit, das 1963 mit dem Oscar für die beste Filmmusik ausgezeichnet wird und das auf Platz 3 der Jahrhundertliste der Filmmusik des American Film Institute steht. Regisseur David Lean liebt die Musik und stellt sie ohne Bilder dem Film voran, wie eine Opernouvertüre.

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MAURICE JARRE conducts LAWRENCE OF ARABIA Orchestral Suite  | LIVE in Concert | Soundtrack /Music | Bildquelle: Leo Leuqim (via YouTube)

MAURICE JARRE conducts LAWRENCE OF ARABIA Orchestral Suite | LIVE in Concert | Soundtrack /Music

"In David Leans Drehbüchern waren die Anweisungen für die Musik äußerst detailliert", erzählte Maurice Jarre. David Lean vermerkte klar, wo die Musik beginnen soll, wo sie anschwellen, wo sie wieder verschwinden soll. "Es war, als würde man einer Landkarte folgen." Kein Wunder, dass die Zusammenarbeit zwischen Maurice Jarre und David Lean weitergehen muss: 1963 emigriert Jarre und lebt fortan in Malibu (mit einer kurzen Unterbrechung in der Schweiz), näher am Regisseur, der auch zum engen Freund wird. 1965 holen die beiden mit "Doktor Schiwago", wieder mit Omar Sharif als Titelheld, den nächsten Oscar. "Doktor Schiwago" lebt von schmachtenden Balalaikas, die Spuren der russischen Volksmusik in den Hollywoodschmelz tragen. Das Hauptthema "Lara's Theme" bleibt im Ohr, setzt sich fest, geht tagelang nicht aus dem Kopf.

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Best scene of Doctor Zhivago (with Lara's Theme by Maurice Jarre) | Bildquelle: Bechir Houman (via YouTube)

Best scene of Doctor Zhivago (with Lara's Theme by Maurice Jarre)

Den dritten Oscar holen David Lean und Maurice Jarre fast 20 Jahre später, 1984 mit dem Kolonialdrama "Reise nach Indien". Hier vermeidet Maurice Jarre bewusst alle musikalischen Indien-Klischees und schreibt eine Musik, die das britische Empire zwar feiert – aber eigentlich ironisch kommentiert.  

David Lean war Gentleman und Philosoph, bei seinen fantastischen Filmen dabei gewesen zu sein, erfüllt mich mit Stolz.
Maurice Jarre

Maurice Jarres französische Kriegsfilme

In den 1960er-Jahren wird Maurice Jarre auffallend oft für Kriegsfilme angefragt, in denen er ganz unterschiedliche musikalische Facetten zeigt. In "Mourir à Madrid" (1963), einem Film über den spanischen Bürgerkrieg, wählt er den denkbar sparsamsten Instrumenteneinsatz, nämlich nur eine Gitarre. In "Dünkirchen, 2. Juni 1940" (1964) mit Jean-Paul Belmondo in der Hauptrolle spielen effektvolle und dissonante Militärmärsche eine große Rolle.

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Week-End a Zuydcoote Soundtrack _Maurice Jarre | Bildquelle: CaillouISTlolTV (via YouTube)

Week-End a Zuydcoote Soundtrack _Maurice Jarre

1966 kommt "Brennt Paris?" in die Kinos, ein Film, dessen Besetzung sich liest wie ein Who-is-Who der Filmstars der Zeit: Jean-Paul Belmondo, Alain Delon und Kirk Douglas, Gert Fröbe, Orson Welles und als Co-Drehbuchautor Francis Ford Coppola. Die Musik zu dem Drama über den Abzug der deutschen Truppen aus Paris fällt Jarre, der die Zeit der Besatzung selbst erlebt hatte, nach eigener Aussage leicht. So schreibt er nicht nur schrill-pompöse Marschthemen gemischt mit französischer Folklore, sondern auch ein Chanson, das Mireille Mathieu zum Filmstart auf dem Eiffelturm singt und Zehntausende zu den Füßen des Turms zu Tränen rührt.

Jarres Soundtrack zu "Die Blechtrommel"

Auch im deutschen Kino hat Maurice Jarre Spuren hinterlassen und zwar mit der Musik zu Volker Schlöndorffs oscargekrönter Günter-Grass-Verfilmung "Die Blechtrommel" (1979). Hier setzt er nicht nur wieder seine – wie könnte es besser passen? – Schlagzeug-Expertise ein, sondern auch sein Folklorewissen: Er stellt der Percussion schon für den ersten Ton der Filmmusik zu "Die Blechtrommel" die Fujara zur Seite, eine Art Flöte oder Fagott, die vom Klang her an ein Didgeridoo erinnert und die Jarre auf einer Reise im Tatra Gebirge kennengelernt hat.

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Kaschubien | Bildquelle: Maurice Jarre - Topic (via YouTube)

Kaschubien

Ein anderer filmmusikalischer Meilenstein ist Jarres leises Klavier zur Schlüsselszene, dem Massaker an polnischen Jüdinnen und Juden. "Diese Musik wirkt viel stärker, als eine, die nur bestätigt, was man im Bild sieht“, erklärt Maurice Jarre diesen scheinbaren Stilbruch.

Die beste Filmmusik ist die, die ausdrückt, was die Bilder nicht zeigen.
Maurice Jarre

Musik für die großen Kinostars des 20. Jahrhunderts

Maurice Jarre arbeitet mit den größten Meistern des Kinos weltweit zusammen: Alfred Hitchcock heuert ihn für "Topas" (1969) an und, wie Jarre sagt: "Er ließ mir absolut freie Hand, er wollte nicht mal die Themen hören, er sagte 'ich hab dich ausgewählt, ich weiß, was du tust und ich vertraue dir".

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'Topaz' March (Main Title) | Bildquelle: Maurice Jarre - Topic (via YouTube)

'Topaz' March (Main Title)

Im selben Jahr bestellt Luchino Visconti bei ihm die schräg-melancholische Musik zu "Die Verdammten". Für Billy Wilders "Der Fänger" (1965) liefert Jarre einen ungewohnt ruhigen Score mit Holzbläsern und Cembalo und in Peter Weirs "Der Club der toten Dichter" (1989) untermalt Jarre Robin Williams berührende Darstellung des unkonventionellen Englischlehrers, der seine Schüler inspiriert, mit einem mystisch-lyrischem Dudelsackthema, das in der legendären Schlussszene durch ein Instrument begleitet wird, das Jarre wohl von seinem Sohn, Jean-Michel Jarre, einem Pionier der elektronischen Musik gelernt hat: dem Synthesizer.

Jarre hat gezeigt, dass die Musik für die Schönheit und den Erfolg eines Films genauso wichtig ist, wie das Bild.
 Nicolas Sarkozy im Nachruf auf Maurice Jarre

Goldener Ehrenbär für Maurice Jarre

Im Jahr 2009, kurz vor seinem Tod, erhält Maurice Jarre, schwer krebskrank, noch den "Goldenen Ehrenbären" bei der Berlinale, und zwar aus den Händen von Regisseur Volker Schlöndorff, der damals sagt: "In jedem Fahrstuhl hört man Laras Thema, alle kennen es. Jarre ist ein ganz, ganz großer Komponist und seine Musik wird bleiben". Bleiben wird er nicht nur im Himmel der Filmkomponisten, sondern auch am astronomischen Himmel: der Asteroid "4422 Jarre" im Hauptgürtel ist nämlich nach ihm benannt worden.

Sendung: Cinema am 15.09.2024 ab 18:05 Uhr

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