Schwindelerregend schnell verändert sich die Welt Anfang des 20. Jahrhunderts. Und auch in der Musik werden Grenzen gesprengt. Volker Hagedorn hat diese Entwicklung in einen dokumentarischen Roman gepackt, der voller spannender Details steckt.
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Buchtipp
Volker Hagedorn: "Flammen"
"Bruno Walter starrt sie an, sie bricht ab. Nicht weiter? Natürlich weiter, natürlich! Aber…das muss er hören. Er muss! Fräulein Smith warten Sie hier, ich sehe, ob er Pause hat. Walter stürzt aus dem Zimmer, hinüber zu Gustav Mahler. 'Das ist eine richtige Komponistin.' Er weiß, was gut ist, er weiß es immer sehr schnell. Ihm ist, als sei mit dieser Ouvertüre eine Energie über ihn hereingebrochen, hinter der sich vergessene Jahrhunderte verbergen…".
Bildquelle: picture alliance/United Archives/WHA Es hätte für die Engländerin Ethel Smyth der langersehnte Durchbruch als Komponistin werden sollen. Einer der besten Dirigenten der Zeit, Bruno Walter, rechte Hand von Gustav Mahler an der Wiener Hofoper, führt ihre Oper "The Wreckers" in Wien auf. Walter wollte es, doch dann ging Mahler nach Amerika, und Walter verließ ebenfalls die Oper, und aus dem Plan wurde nichts. Der Durchbruch als Komponistin wurde Ethel Smyth auf dem Kontinent zu ihren Lebzeiten nicht mehr zuteil – widrige Umstände und unglücklichen Zufälle waren dagegen.
Volker Hagedorn widmet der bis heute recht unbekannten Komponistin Ethel Smyth trotzdem einen Großteil seines Buchs "Flammen – eine europäische Musikerzählung von 1900-1918". Die zweite Hauptfigur ist Claude Debussy, was deutlich nachvollziehbarer ist.
Claude Debussy | Bildquelle: picture-alliance/dpa Mit beiden Persönlichkeiten wandert der Autor durch die Geschichte der Musik der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, berichtet von wichtigen Werken und ihrer Entstehung, fruchtbaren und furchtbaren Begegnungen, Tratsch und Klatsch. Tatsächlich passierte in diesen 18 Jahren ein so radikaler Wandel in der Musik, entstand eine solche Vielfalt an musikalischen Stilen und Handschriften, dass man das nur mit Mühe zwischen zwei Buchdeckel bringt. 1912 spielen Strawinsky und Debussy die Skizzen zum neu entstandenen Ballett "Le Sacre du Printemps" am Klavier durch.
Dieses Buch ist wie geschaffen für alle, die …
… es bedauern, dass Florian Illies keine Bücher über Musik geschrieben hat.
Dieses Buch lädt ein zum …
… Lesen von Musiker-Biographien.
Dieses Buch lohnt sich, weil …
… auch Musikgeschichte spannend sein kann.
"Strawinsky schwankt ein bisschen, als er aufgestanden ist. Debussy legt ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dann wendet der Jüngere sich rasch wieder zu den Noten und blättert zurück, um etwas zu korrigieren. 'Fagott?', meint Debussy auf die einsame Basslinie am Beginn der Action Rituelle. 'Nein, sicher nicht. Sie setzen ein Fagott nicht da ein, wo es jeder andere tun würde. Englischhorn?... Sie sagen es!' Strawinsky lächelt, jetzt entspannt er sich."
Hagedorn hat mit "Flammen" einen Musikroman geschrieben, der historische Fakten und erzählerische Fantasie geschickt miteinander verbindet. Das erinnert nicht zufällig an die Bestseller von Florian Illies "1913" und "Liebe in Zeiten des Hasses". Aber warum nicht? Spannend erzählen kann der Musikjournalist und Buchautor Volker Hagedorn und inhaltlich weiß er ohnehin, worüber er schreibt.
Mitunter allerdings übertreibt es Hagedorn mit der Sprunghaftigkeit der Szenenwechsel. Das erinnert dann etwas an die Soaps im Vorabendprogramm und stört beim Lesen. Auch die zahlreichen kolportagehaft ausgeschmückten Salonszenen mit jeder Menge Getratsche gefallen dem Autor womöglich mehr als dem Lesepublikum. Am meisten punktet Hagedorn mit kenntnisreichen und sprachlich hervorragenden Musikbeschreibungen. So hängt dieses Buch stilistisch etwas zwischen den Stühlen; für Musikfans aber ist es in jedem Fall eine lohnende und spannende Lektüre.
Volker Hagedorn
Flammen – eine europäische Musikerzählung 1900 - 1918
rowohlt, 2022
448 Seiten
Preis: 32,00 EUR
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