Harrison Birtwistles ruppige Musik ist längst Teil des Kanons der Neuen Musik und wird von allen bedeutenden Orchestern der Welt gespielt. Als musikalischer Leiter hat Harrison Birtwistle die Gründungsjahre des Royal National Theatre mitgeprägt und wurde dafür von der Queen in den Adelsstand erhoben; später hatte er den Henry Purcell-Kompositionslehrstuhl am Londoner King's College inne. Nun ist der britische Komponist im Alter von 87 Jahren gestorben.
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Musik wie rollende Felsbrocken
Zum Tod des Komponisten Harrison Birtwistle
Einmal hat Harrison Birtwistle sogar in der Boulevardpresse für Schlagzeilen gesorgt. Am 16. September 1995, bei der legendären "Last Night of the Proms", fegte ein neues Stück von ihm durch die altehrwürdige Royal Albert Hall. Es hieß "Panic" – und es klang auch so.
In Panik gerieten dann die englischen Fernsehzuschauer, die sich auf "Rule Britannia" und "Pomp and Circumstance" gefreut hatten. Tausende empörte Anrufer blockierten die Telefonzentrale der BBC, der "Daily Express" schimpfte über den "völligen Blödsinn" und die "Daily Mail" über die "schreckliche Kakophonie". Der Skandal war perfekt. Doch immerhin kannte nun ein Millionenpublikum den Namen des vielleicht bedeutendsten zeitgenössischen englischen Komponisten: Sir Harrison Birtwistle.
Oft klingt seine Musik heftig, wuchtig, laut. Wie riesige Felsbrocken, die ins Rollen gekommen sind. Als Person war Harrison Birtwistle dagegen das komplette Gegenteil: zurückhaltend, nachdenklich, still, die Gefühle hinter einem dichten Vollbart versteckt. Legendär ein frühes Radio-Interview, in dem er praktisch nichts sagte – außer "ja", "nein" oder "Ich verstehe die Frage nicht." Dafür sprachen bald andere über ihn, zum Beispiel der Dirigent Simon Rattle: "Er baut seine Stücke auf wie eine typisch englische Trockenmauer, wo Steine unterschiedlichster Größe und Form irgendwie zusammengefügt werden müssen, ohne Mörtel dazwischen."
Wahrscheinlich ist er unser originellster und individuellster Komponist.
Der Komponist Harrison Birtwistle, Foto von 1968 | Bildquelle: picture-alliance / United Archives Birtwistle wurde 1934 zwischen Trockenmauern geboren, auf dem Land nördlich von Manchester, als Sohn eines Farmers. Erstmal studierte er ganz bodenständig Klarinette, bevor er zusammen mit seinen Studienkollegen Peter Maxwell Davies und Alexander Goehr das erste Neue-Musik-Ensemble von Manchester gründete und sich ernsthaft dem Komponieren zuwandte. Sein musikalisches Erweckungserlebnis hatte er beim Hören von Olivier Messiaens Turangalila-Sinfonie, nicht etwa beim Studium von Schönbergs Reihen; und auch später hat er sich nie um die Dogmen von Darmstadt und Donaueschingen geschert, hat sich – typisch Engländer – nie einer Schule angeschlossen. Nicht die Theorie war Birtwistle wichtig, sondern das sinnliche Erleben, nicht das Material, sondern die Idee.
Ich habe beim Komponieren oft versucht, mich mit archetypischen Dingen zu beschäftigen. Gerade das Irrationale ist es, das mich interessiert.
Birtwistles erste Oper ist nichts für schwache Nerven: In "Punch und Judy" wirft ein Mann im Hanswurst-Kostüm sein Baby ins Feuer, erdolcht seine Freundin, zersägt schließlich den Conférencier. Die Musik dazu: brutal, grotesk, sarkastisch. Während der Uraufführung 1968 beim Aldeburgh Festival verließen zahlreiche Zuschauer fluchtartig den Saal, darunter Birtwistles Komponistenkollege Benjamin Britten.
Manchmal ähnelt Birtwistles Musik einer archaischen Prozession, einem fremdartig-faszinierenden Ritual. Manchmal kann man sich aber auch in ihr verlieren wie in einem verschlungenen, mehrstöckigen Labyrinth, dessen Form sich erst beim Gehen nach und nach – und nie vollständig – erschließt. Stets hat Birtwistle Brücken gebaut zwischen den Errungenschaften der Avantgarde und dem Erbe der Vergangenheit. Oft ließ er sich dabei von Kompositionstechniken des Mittelalters und der Renaissance inspirieren. Seine großen Orchesterwerke "Earth Dances" und "The Triumph of Time" sind zu Klassikern des 20. Jahrhunderts geworden; seine komplexen Opern, allen voran "The Death of Orpheus", wurden viel diskutiert, aber selten nachgespielt.
Im Oktober 2014 spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die Uraufführung von Harrison Birtwistles "Responses: Sweet disorder and the carefully careless", ein Werk für Klavier und Orchester. Ein Video gibt Einblicke in die Probenarbeit.
"Mag sein, dass ich für ein Elite-Publikum schreibe", gab Birtwistle zu, der vom Grawemeyer Award bis zum Siemens Musikpreis alle großen Auszeichnungen erhalten hat. "Aber daran denke ich beim Komponieren nicht. Ich will einfach nur so gut sein wie Beethoven – das ist mein Ehrgeiz."
Sendung: "Horizonte - In memoriam Harrison Birtwistle" am 21. April 2022 ab 22:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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