Das gibt's nur einmal: Ein 94-jähriger Dirigent, der nach wie vor bei den besten Orchestern der Welt gastiert! Aber der in den USA geborene Schwede Herbert Blomstedt ist eben ein Phänomen. Bei acht Spitzenorchestern ist er Ehrendirigent, in Tokio, San Francisco, Stockholm, Kopenhagen, Leipzig, Dresden, Bamberg – und bei den Wiener Philharmonikern. Mit denen ist Blomstedt jetzt wieder bei den Salzburger Festspielen aufgetreten, am 27. und 28. August 2021 im Großen Festspielhaus – wie gewohnt mit einem spannenden Programm. Für BR-KLASSIK war Fridemann Leipold dabei.
Bildquelle: SF / Marco Borrelli
Die Kritik zum Anhören
"Ich wollte in diesem Werk die Auflehnung des modernen Menschen gegen die Flut der Barbarei, der Dummheit, des Leidens, des Maschinismus, der Bürokratie symbolisieren, die uns seit einigen Jahren bestürmt", sagte Arthur Honegger über seine "Symphonie liturgique". Das ist dem Schweizer Komponisten beklemmend gelungen. 1945/46 schrieb er sich in seiner Dritten Symphonie das Grauen des Zweiten Weltkriegs von der Seele.
Herbert Blomstedt, diese lebende Legende am Pult, meißelt die entfesselte Motorik, die wildgezackten Rhythmen und schrillen Bläserkaskaden dieser Bekenntnismusik scharfkantig heraus. Von Altersmüdigkeit keine Spur: Ohne Stab, mit sparsamer, aber prägnanter Zeichengebung steuert Blomstedt die Wiener Philharmoniker durch Honeggers hochexpressive Partitur. Und die Wiener spielen an diesem Vormittag in Salzburg ihre Stärken voll aus. Ihr rundes, volltönendes Blech, ihr samtiger, warmer Streicherklang und ihre beseelten Holzbläser-Soli machen diese "Liturgische Symphonie" zu einem aufwühlenden, lange nachwirkenden Hörerlebnis.
Der Komponist Arthur Honegger | Bildquelle: Agence de presse Meurisse / Bibliothèque nationale de France Honegger gab den drei Sätzen seiner Dritten Symphonie durch lateinische Zitate aus der christlichen Liturgie eine spirituelle Dimension. Auf die Schrecken des Jüngsten Gerichts im "Dies irae" folgt im "De profundis" ein zum Sterben schönes Adagio. Dass dem tiefgläubigen Blomstedt diese Musik besonders nahegeht, spürt man an der Intensität, mit der er Honeggers Seelenqualen auslotet. Und im abschließenden "Dona nobis pacem" müssen erst unerbittliche Marschtritte in die Katastrophe führen, bevor Honegger am Ende eine Art Friedens-Utopie entwirft. Lange Stille herrscht im Großen Festspielhaus, nachdem die "Symphonie liturgique" mit einem Hoffnungsschimmer aus anderen Sphären verklungen ist.
Es ehrt den Altmeister Blomstedt, dass er das Salzburger Festspielpublikum mit derart existenziellen Botschaften konfrontiert. Auch die Vierte Symphonie von Johannes Brahms ist ja kein Stück zum Zurücklehnen und Genießen. Blomstedt, der dieses epochale Formkunstwerk sicher schon unzählige Male in seinem nunmehr 94-jährigen Leben dirigiert hat, geht mit Vitalität und Schwung ans Werk. Eine Taschenpartitur liegt vor ihm auf dem Pult, er schlägt sie nie auf, kann sich so ganz seinen Musikern zuwenden. Die Wiener Philharmoniker haben "ihren" Brahms natürlich drauf, in großer Besetzung frönen sie der Lust am Klang und versenken sich in die tiefe Melancholie der Vierten. Dass da im Eifer des Gefechts nicht alles hundertprozentig zusammen ist – geschenkt. Sicher keine revolutionäre Brahms-Interpretation, aber eine, die von hoher Orchesterkultur und ansteckender Spielfreude getragen ist. Blomstedt hat spürbar den größten Anteil daran, wie selbstverständlich geht ihm alles von der Hand – der Mann kann es einfach. Am Ende stehende Ovationen und grenzenloser Jubel.
Sendung: "Allegro" am 30. August 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)