Der japanische Komponist Toshio Hosokawa schrieb eine Oper über Naturkatastrophen, orientiert an Kleists "Erdbeben in Chili" und dem Tsunami von Fukushima. Zum letzten Mal inszenierte Jossi Wieler als Intendant der Oper Stuttgart. Am 1. Juli 2018 fand die Uraufführung statt. Musikalisch und textlich wirkte das Stück überfrachtet und letztlich unausgegoren.
Bildquelle: A. T. Schaefer
Die Kritik zum Anhören
Ob Naturkatastrophen die Betroffenen wirklich zu besseren Menschen machen? Oft ist nach Erdbeben, Feuersbrünsten und Tsunamis ja viel von Hilfs- und Opferbereitschaft die Rede, da werden Heldengeschichten geschrieben, da ist die Selbstlosigkeit groß. Allerdings auch der Überlebenswille, die Rücksichtslosigkeit, der Egoismus, der Aberglaube. Darum geht es in Heinrich von Kleists berühmter Novelle "Das Erdbeben in Chili": Er fantasiert nach einer wahren Begebenheit von 1647 darüber, wie urplötzlich Mauern einbrechen, und zwar nicht nur die aus Stein, sondern auch die moralischen und gesellschaftlichen. Für kurze Zeit dürfen sich alle wirklich frei fühlen, doch das geht nicht gut aus, am Ende siegen doch wieder die Fanatiker.
An der Stuttgarter Staatsoper haben Textdichter Marcel Beyer und der japanische Komponist Toshio Hosokawa aus dem Stoff eine Oper gemacht, "Erdbeben.Träume". Ein großer Trauergesang über den Umgang der Menschen mit Katastrophen, natürlich auch die von Hiroshima 1945 und Fukushima 2011. Das Stuttgarter Produktionsteam ist eigens nach Japan geflogen, um die dortigen Verwüstungen nach dem Tsunami in Augenschein zu nehmen. Komponist Hosokawa ist 1955 in Hiroshima geboren, zehn Jahre nach dem Atombomben-Abwurf, kennt also die Langzeit-Folgen. Wenig verwunderlich dominieren in seinem Werk die Posaunen, die lautesten, schreiendsten aller Instrumente. Daneben ist die japanische Furin zu hören, ein Wind-Glockenspiel, es weht der Wind, es atmet, es tropft das Wasser, es rauschen die Wellen.
"Entschleunigung" im Klangtunnel
Toshio Hosokawa: "Erdbeben.Träume" in Stuttgart. Szenenfoto: Torsten Hofmann (Pedrillo), Sachiko Hara (Philip) | Bildquelle: A. T. Schaefer Hosokawa fühlt sich nach eigener Aussage dem traditionellen No-Theater verbunden, das sich zwischen Traum und Wirklichkeit hin und her bewegt, nicht die schlechteste Grundlage für ein Werk nach Heinrich von Kleist, der seine Figuren ja auch immer gern träumen und entrückt sein lässt. Das Publikum wird in einen "Klangtunnel" hinein gezogen, eindrucksvoll rundum beschallt. Inszeniert hat Jossi Wieler, zum letzten Mal als Intendant der Stuttgarter Staatsoper, ein Mann, der die "Entschleunigung", das gründliche und systematische Nachdenken, zum Programm erhob: "Auch das ist uns in Maßen gelungen, dass wir uns die Zeit nehmen für das, was wir versuchen künstlerisch umzusetzen, und nicht einfach nur irgendwas behaupten und nur einfach schöne Stimmen holt, sondern dass man ein Ensemble aufbaut über viele, viele Jahre." So umschreibt Wieler seine Stuttgarter Tätigkeit.
Ja, es war eine ungewöhnliche Kunstanstrengung, wie fast immer in Stuttgart, wobei diesmal die Betonung wirklich auf "Anstrengung" lag. Das lag erstens am schwierigen Thema, vor allem aber am mehr als anspruchsvollen Text von Marcel Beyer. Der überfrachtete die ohnehin schon problematische Vorlage von Kleist mit weiteren Bedeutungsebenen, Anspielungen, dunklen Assoziationen, so dass die dargestellte Geschichte, die Identitätsfindung eines stummen Kindes, in Einzelteile zerfiel. Irgendeine Art von Erkenntnisgewinn wollte sich jedenfalls nicht einstellen, schon gar keine emotionale Betroffenheit. Bühnenbildnerin Anna Viebrock hatte sich einmal mehr direkt vor Ort, in diesem Fall in Fukushima, inspirieren lassen und eine rissige Betonruine entworfen. Hausrat liegt herum, eine schäbige Brücke und eine zerborstene Reklame-Leuchte im Hintergrund. Eine deprimierende Kulisse und eine Gewalt-Arena.
Die Leute gehen nicht einfach türschlagend raus, wenn sie etwas nicht verstehen.
Die Mitwirkenden, allen voran Esther Dierkes und Dominic Große, warfen sich regelrecht in diese Produktion, durchweg glaubwürdig, ernsthaft, buchstäblich engagiert bis zum Umfallen. Der Applaus war groß - und das hat in Stuttgart auch bei Uraufführungen Tradition, wie Jossi Wieler ausführt: "Die Leute gehen nicht einfach türschlagend raus, wenn sie etwas nicht verstehen oder nicht mögen, sondern sie wollen dann die anderen nicht stören, sie wollen nicht auffallen, sie gehen dann leise weg. Das ist wirklich etwas Besonderes hier, das hat mit der Mentalität in der Region etwas zu tun."
Toshio Hosokawa: "Erdbeben.Träume" in Stuttgart. Szenenfoto | Bildquelle: A. T. Schaefer Am stets neugierigen, aufgeschlossenen, diesmal eher zurückhaltenden Dirigenten Sylvain Cambreling lag es sicher nicht, dass "Erdbeben.Träume" musikalisch doch eher unfertig und unausgegoren wirkte. Vielmehr hatte der Komponist seine Probleme mit dem Libretto vorsichtig durchblicken lassen. Da passte also manches nicht zusammen. Wie auch immer: Für Regisseur und Intendant Jossi Wieler ist es die vorläufig letzte Produktion in Stuttgart - er nimmt sich die Freiheit, auch ohne Naturkatastrophe: "Wenn man Intendant ist, sollte es nicht um Macht gehen, sondern um den Gestaltungsraum, den man sich schaffen kann, mit anderen zusammen", resümiert Wieler. "Es sind zwei sehr verschiedene Berufe, der des Intendanten und der des Regisseurs. Wenn man das zu lange macht, das ist meine Überzeugung, dann verändert das einen, glaube ich, auch im Künstlerischen. Deswegen brauche ich jetzt mal eine andere Luft und eine gewisse Unabhängigkeit."
Toshio Hosokawa:
"Erdbeben.Träume"
Libretto von Marcel Beyer
Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling
Regie: Jossi Wieler
Informationen zu Terminen und Vorverkauf finden Sie auf der Homepage der Oper Stuttgart.
Sendung: "Leporello" am 2. Juli 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK