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Kritik - "Changing of the Guard" von Ari Benjamin Meyers Ein komponiertes Ritual in Bochum

Seit mehr als einem Jahrzehnt komponiert der amerikanische Komponist Ari Benjamin Meyers nicht nur Noten, sondern ganze Choreographien. Dabei entstehen Arbeiten, die sich nur schwer einordnen lassen. Vor einem Jahr hat er beispielsweise das Lenbachhaus zusammen mit dem BR-Symphonieorchester in eine Bühne verwandelt. Eine ähnlich schillernde Veranstaltung erlebte am 9. Juni in Bochum ihre Uraufführung: "Changing of the Guard" – ein öffentliches Ritual, mit dem Meyers gleich eine ganze Stadt zum Thema eines Kunstwerks macht.

Bildquelle: Diana Küster

Die Kritik zum Anhören

Schon der Beginn von "Changing of the Guard" verrät einiges über den Komponisten Ari Benjamin Meyers. Immerhin ist die Irritation darüber, mit welcher Art von Veranstaltung man es hier überhaupt zu tun hat, ein Effekt, den viele seiner Arbeiten provozieren. "Man muss sich vorstellen, an einem Abend, irgendwo in der Stadt, sammeln sich Leute, fangen an zu musizieren und viele Bochumer werden gar nicht wissen: Was soll das? Was ist das? Ist das eine Demo?" So bringt Meyers es auf den Punkt.

Fahnenträger in Büßerhemden

Eine Demo? Könnte man zumindest meinen. Samstagabend, Punkt 20.00 Uhr, setzen sich an sechs verschiedenen Orten in Bochum kleine Prozessionen in Bewegung. Vorneweg jeweils zwei Musiker, dahinter zehn Fahnenträger in grauen, glänzenden Büßerhemden, gefolgt von einer bunten Schar an Neugierigen. Ein schleppender Trauermarsch mit heiterem Anhang, der sich langsam in Richtung Schauspielhaus bewegt. Vorbei an Kneipen, Spielhallen, Striplokalen und viel verdutztem Volk.

Entlassung in den ewigen Feierabend

"Changing of the Guard" von Ari Benjamin Meyers, Szenenbild von der Uraufführung | Bildquelle: Diana Küster "Changing of the Guard" von Ari Benjamin Meyers, Szenenbild von der Uraufführung | Bildquelle: Diana Küster Die Umzüge sind Teil eines öffentlichen Rituals. Zusammen mit dem Schauspielhaus Bochum knöpft sich Ari Benjamin Meyers darin die Zukunft der Arbeit vor. Oder vielmehr deren künftige Vergangenheit. Hinter "Changing of the Guard" – zu Deutsch: "Wachablösung" – steckt nämlich das Gedankenspiel vom Ende des "homo laborans": Arbeitsgesellschaft, adé! Maschinen, Künstliche Intelligenzen, übernehmen unsere Geschäfte, während die Menschen – verkörpert von 60 Berufstätigen aus Bochum – in den ewigen Feierabend entlassen werden. Arbeitslos geworden strömen sie nun auf den Theatervorplatz, wo das eigentliche Ritual beginnt: "Berufslos seid ihr und ich spreche Euch los von eurem Los", heißt es da. "Ich spreche Euch los, von dem was ihr wart, was ihr könnt und was ihr gelernt habt – Wir sprechen euch los!"

In sieben Schritten zum neuen Menschen

Spätestens an dieser Stelle ist offenbar, dass es sich bei der ganzen Aktion um eine Art von Aufführung handelt. So feingetaktet ist die Choreographie, die zwischen Klang und Bewegung entsteht – kaum denkbar, dass hier kein Komponist oder zumindest Zeremonienmeister am Werke war. Die Laienschauspieler versammeln sich in der Mitte des Platzes zu einem Chor der Arbeitslosen, der von einer Hand voll Schauspielerpriestern in die "Post Work"-Ära gecoacht wird. In – die Bibel lässt grüßen! – sieben Schritten zum neuen Menschen, der reist, philosophiert und sozial höchst aufgeschlossen ist.

Theater oder Realität?

Dass "Changing of the Guard" das Pathos nicht scheut, wäre eine Untertreibung. Die Inszenierung umarmt es geradezu. Nach ironischer Brechung sucht man vergebens. Und trotzdem droht das in keinem Moment ins Peinliche zu kippen. Das liegt zum einen an der strengen Choreographie, die Meyers seinen Performern verordnet hat – dem wunderbar abgestimmten Wechselspiel von solistischem und chorischem Sprechen, aber auch an der räumlichen Anordnung der Instrumente, die den Theatervorplatz in eine klingende Bühne verwandelt, der Stadt fast ein wenig entrückt. Mehr noch liegt es aber an den 60 Laien, die Meyers für sein Ritual gewinnen konnte. Ihr unaufgeregtes, aber konzentriertes Spiel erdet die Inszenierung – bildet das Gegengewicht zu der sonst so artistischen Performance. Und wie sie da auf der Eingangstreppe des Bochumer Schauspielhauses stehen, einer nach dem anderen seinem Beruf abschwört, das wirft fast schon wieder die Frage auf: Ist das jetzt noch Theater oder verändert sich da wirklich etwas? So sicher kann man sich da bei Ritualen ja nie sein.

Sendung: "Allegro" am 11. Juni 2018, 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Ari Benjamin Meyers auf BR-KLASSIK

THEMA MUSIK LIVE
Donnerstag, 14. Juni, 20:00 Uhr

Die Sende- und Veranstaltungsreihe THEMA MUSIK LIVE ist in der kommenden Ausgabe zu Gast in der Versicherungskammer Bayern in München-Giesing. "Die Künste" – ist dieser Plural noch sinnvoll? Oder gibt es, nach John Cage und Joseph Beuys, nach Fluxus, Klang- und Medienkunst, ohnehin nur noch eine "multimediale Kunst"? Diesen und anderen Fragen stellt sich eine illustre Runde von Komponisten und Musikwissenschaftlern, unter ihnen Ari Benjamin Meyers. Es moderiert BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff. Die Veranstaltung beginnt um 20.00 Uhr, BR-KLASSIK überträgt sie live im Radio.

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