32 Klaviersonaten, acht Konzerte, über zehn Stunden Musik: Pianist Igor Levit ist bei den Salzburger Festspielen mit allen Beethoven-Sonaten zu erleben. In diesem Sommer dort auftreten zu dürfen, sei für ihn ein unwahrscheinliches Glück, so Levit. Und ein gigantisches Vergnügen, meint unser Kritiker.
Bildquelle: SF / Marco Borrelli
Erste Sonate, Schlussakkord – und Levit schnellt auf den Klavierhocker zurück, wie eine Feder, die vom Haken gelassen wurde. Ein Moment wie eine Metapher. So greifbar wird hier, welche Kräfte, welche Spannungen entstehen, wenn sich dieser Pianist ans Klavier setzt. Beziehungsweise: klemmt.
Obwohl er einen Konzertmarathon vor sich hat: Levit spart sich nicht auf, denkt gar nicht dran, seine Kräfte zu dosieren. Schon nach wenigen Takten prankt er das erste Mal einen Fortissimoakzent in den Flügel, rammt zeitgleich den Fuß in den Boden. Ich bin da! – das ruft nicht nur die Musik. Das donnert nicht nur Beethoven auf den ersten Metern seines Soloklavierwerks. Dieser Satz spricht genaugenommen aus jeder Geste, jeder Verrenkung, die Levit am Instrument unternimmt. Er stampft und stöhnt, kriecht in die Tastatur hinein und lehnt sich wie ein Rennfahrer in die Kurven seiner rasanten Läufe. Das könnte komisch wirken, zur Karikatur werden, erzeugt aber eine enorme Intensität. Denn diese Performance ist gedeckt durch das, was man hört: ein Gestaltungsfeuerwerk.
Ludwig van Beethoven, Gemälde, Wien um 1804, von Willibrord Joseph Maehler | Bildquelle: picture-alliance/dpa Levit beschränkt sich nicht darauf, nur "einen" Beethoven zu zeichnen. Stattdessen blitzen ganz verschiedene Beethovenbilder von der Bühne. Ein ganzes Kaleidoskop. Das liegt auch daran, wie der Pianist die Reihe angelegt hat. Brav chronologisch macht er's nicht. Schon der erste Abend gleicht einem wilden Galopp durch die verschiedensten Werkphasen. Levit startet mit der ersten Sonate und sprintet sich durch bis zur "Waldstein". Beethoven ist dabei kaum zu fassen. Zumindest nicht im Singular: Eher erscheint der Komponist als Mann mit tausend Gesichtern – und mindestens so vielen Masken, wie sie das Publikum im Haus für Mozart trägt. Mal klingt er klassisch mozartisch, dann sanglich romantisch – und immer wieder rasend modern.
Bestes Beispiel ist vielleicht der Kopfsatz der Klaviersonate op. 26, in As-Dur. Ein Variationssatz, der mit einem zarten lyrischen Thema startet, das Beethoven dann im wahrsten Sinne des Wortes dekonstruiert, auseinandernimmt, atomisiert, neu zusammensetzt; wie eine Idee, die gedreht, gewendet und in immer neue Klanggewänder gesteckt wird. Eine Scharade, in die sich Igor Levit mit berauschender Spiellust und irrer Klangfantasie hineinwirft. Da werden hölzerne Staccati plötzlich zu wolkigen Marshmallowsounds. Und brausende Läufe verschwinden vom einen Moment auf den anderen im Nichts – oder implodieren, angespitzt durch ein bisschen Pedal, zu glitzernden Klangflächen.
Wollte man sich doch auf ein Beethovenbild festlegen, das an den ersten Abenden dieses Zyklus dominiert, dann vielleicht das des Spielers und Täuschers. Ein Eulenspiegel, der dem Zuhörer immer wieder die Leiter wegzieht, auf die er ihn gerade geschickt hat. Ganz exemplarisch geschieht das etwa im Mittelsatz seiner G-Dur Sonate, op. 79. Ein romantisches Gondellied, melancholisch schwebend bis zum Schluss. Besser gesagt: bis auf den Schluss. Levit batzt den Akkord unwirsch in die Tasten: "Glotzt nicht so romantisch!"
Sollte an dieser Stelle noch Unklarheit herrschen: Was Levit in Salzburg mit Beethoven macht, ist ein gigantisches Vergnügen! Vor allem das erste Konzert spült mich regelrecht euphorisch zurück auf den Karajanplatz vor dem Salzburger Haus für Mozart. So aufregend lebendig ist das, was hier geboten wird: mehr eine Improvisation als Interpretation. Da ist nichts in Stein gemeißelt, da wird kein Beethoven-Denkmal enthüllt, sondern da entsteht was.
Bildquelle: SF / Marco Borrelli Dazu kommt ein noch der Mut zum Risiko. Levit wählt zum Teil haarsträubende Tempi. Beispielsweise im ersten Satz der Waldsteinsonate. Ein derart rasanter Ritt, dass man fast ängstlich im Publikum sitzt, weil man geradezu darauf wartet, dass Levit sich überschlägt. Ein Konzert wie eine Stuntshow – aber keine Virtuosenshow! Denn hier spielt niemand, der angibt mit dem, was er kann, sondern ein Pianist kurz vorm Sturz. Einer, der zeigt, dass er es in Kauf nimmt zu scheitern; einer, der die Überforderung, die Zumutungen sichtbar macht, die Beethoven komponiert hat. Das ist nicht nur spektakulär, sondern vor allem eine Befreiung.
Zu kleineren Abstrichen zwingt erst der zweite Abend: Was am Sonntag noch hinter dem Gesamteindruck verschwindet, tritt nun deutlicher hervor: Levit liebt das Extrem. Allerdings – wenn der Pianist zum dritten, vierten Mal mit Vollgas durch einen schnellen Satz rauscht, dann wird selbst dieses Extrem für den Hörer zur Normalität. Sozusagen ein "typischer Levit". Dann fallen sie plötzlich auf, die Läufe, die nur noch so durchglitschen, die Artikulation vermissen lassen, flächig werden. Dann wird auch das Levit'sche Pathos sichtbar. Nach dem Motto: das Langsame noch langsamer. Jeder Ton ein Schicksalsschlag – sei's in der düster-jenseitigen Klangwüste des Mittelsatzes der "Waldstein". Oder im schwermütigen Beginn von "Les Adieux“". Trotzdem – das sind Randbemerkungen, die dem Gesamteindruck keinen Abbruch tun. Der Start seines Salzburger Beethoven-Zyklus ist Igor Levit zum Heulen gut gelungen.
Sendung: "Allegro" am 04. August 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Igor Levit macht Beethovens Welt auch im BR-KLASSIK-Podcast "32 x Beethoven" lebendig. In 32 Podcast-Folgen – eine für jede Sonate – wird hörbar, was Beethovens Musik so revolutionär und einzigartig macht.
Den Podcast "32 x Beethoven" finden Sie hier, in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt – von Spotify bis Apple Podcast.
Kommentare (5)
Freitag, 14.August, 23:14 Uhr
Wolfgang Haslacher
Sehr geehrter Herr Schneider
Ich hatte Physik Leistungskurs, ich kenne den Unterschied zwischen Im- und Explodieren. Sie haben offensichtlich wenig Gespür für Ironie.
Und die "blumigen Worte" stammen allesamt aus der von mir besprochenen Kritik von Herrn Stosiek. Genau deshalb habe ich ja überhaupt einen Kommentar verfasst. Ich habe auch keineswegs eine Aversion gegen Igor Levit, ich beziehe mich ausschließlich auf den Stil der Kritik.
Und nein, Beethoven muss keineswegs täglich neu erfunden werden und hat sicher noch nie letztgültig "funktioniert". Meinen Beethoven spiele ich übrigens sicher nicht im Herkulessaal, da reicht mir mein Wohnzimmer.
MfG
Sonntag, 09.August, 18:31 Uhr
Wilfried Schneider
Levit-Kritik Haslacher
Dass Sie Igor Levit nicht mögen, hätten Sie auch mit weniger blumigen Worten schreiben können. Dass ich Ihre Meinung nicht teile, wird sicher jeder, der sich ernsthaft mit den Klaviersonaten Beethovens beschäftigt hat, nachvollziehen können. Ja, Beethoven MUSS täglich neu befragt und meinetwegen auch erfunden werden! Wenn Sie natürlich allein wissen, was Beethoven wollte und wie Beethoven letzgültig funktioniert, bin ich auf Ihren Auftritt, demnächst nach Corona, im Herkulessaal gespannt. Ich lasse mich gerne überzeugen.
Und zu Ihren Physikkenntnissen: Implodieren ist nicht das frühere Explodieren, sondern das genaue Gegenteil von Explodieren. Ich muss grinsen, wenn ich Sie mir als Opfer einer Implosion vorstelle. Ihr linkes Ohr befindet sich danach auf der rechten Seite und umgekehrt, (das nur als Anmerkung).
Mittwoch, 05.August, 21:32 Uhr
Wolfgang Haslacher
levit kritik
Der Rest geht dann in "irren Klangfantasien" unter, auch hier erübrigt sich praktischerweise jeder argumentative Auseinandersetzung mit der Interpretation von Herrn Levit. Man "batzt" und ist "unwirsch" (übrigens ein m.E. sehr schönes Wort, das es nur in der negativ Form gibt), das sollte ja genügen. Andernfalls kann der Zuhörer ja immer noch angespitzt "Implodieren" ( Hinweis: das ist das frühere Explodieren. Implodieren ist aber viel moderner, explodieren kann ja jeder). Der Beethoven wäre bei der Lektüre Ihrer Rezension vermutlich Im/expolodiert, aber das entscheidet am besten Hr. Levit, er kannte Ludwig van Beethoven ja wohl so gut wie niemand in den letzten 250 Jahren, zumal wenn er mal wieder am Klavier "klemmt". Eine Stuntman halt wie er im Notenbuch steht
Mit wirschen und prankenden Grüßen
Wolfgang Haslacher
PS: wenn hölzerne Saccati zu wolkigen Mashmallosounds werden wäre ich gerne dabei! Bitte reservieren Sie mir einen Platz und wir rauchen vorher was zusammen.
Mittwoch, 05.August, 21:31 Uhr
Wolfgang Haslacher
Levit
Hauptsache es unterscheidet sich von der Konkurrenz, der Beethoven muss ja täglich neu erfunden werden.
Nicht zeichnen, nein "blitzen" muss es, warum auch immer. "Galopp", drunter machen wir es nicht mehr. Tempo als neuer Maßstab. Mindestens "tausend Gesichter" wollen wir überdies sehen, so viele hatte Beethoven angeblich auch. Dass sich das Ganze in Manierismen und Tempoextremen erschöpft, geschenkt. Wer wird denn so kleinlich sein und in die Noten sehen. "Freiheit über alles", so war das Motto der BR Beethoven Hörbiographie, und warum sollte das nur für den Autor gelten? Der Rezensent berauscht sich zunehmend an seinen eigenen Worten. Ein "Kaleidoskop (ein wirklich schönes Wort, das bitte nicht inflationär verwendet werden sollte) wird geschaffen (wie geht das?), aber damit ist noch bei weitem nicht Alles beschrieben, es geht "rasend modern" (was für eine veraltete Vokabel, unmoderner als "modern" geht gar nicht) weiter , zumindest wenn es nicht gerade "sanglich romantisch" ist. A
Mittwoch, 05.August, 21:29 Uhr
Wolfgang Haslacher
Ihre Rezension
Gestaltungsfeuerwerk mit Tausend (!) Masken
Die Wertschätzung der Körpersprache von Igor Levit bei seinem Beethovenspiel ist sicher Ansichtssache, ob "Stampfen, Stöhnen und Kriechen" der musikalischen Sache hilfreich sind, kann man getrost dahin gestellt sein lassen. Es kommt ja doch mehr auf das akustische Ergebnis an. Zumindest sollte es aber nicht weiter stören. Eine eigene kreative Wertschöpfung darf man aber darin eher nicht sehen. Wer etwa die wunderbaren Pianisten Arthur Rubinstein oder Claudio Arrau erlebt hat, weiß, dass hochspannendes Klavierspiel auch ohne Stampfen und Stöhnen möglich ist.
Für den Rezensenten scheint das aber auf jeden Fall eine wichtige Rolle zu spielen. Klavierspiel wird messbar, eine Performance, die "rasant" zu sein hat. Ein Beethoven bei dem auf den Läufen die Zeit genommen wird (Formel 1?), und am besten in jeder Runde noch ein wenig schneller, auch wenn jede Deutlichkeit und Artikulation verloren geht, was soll`s, Hauptsache es unterscheidet sich