Es gibt Regeln für diesen Abend: Uhren, Handys, Kameras kommen in den Schrank. Nichts soll die Andacht stören. Dann setzen 500 Menschen Schallschutz-Kopfhörer auf. Und sehen ein Podest mit dem Flügel und Pianist Igor Levit darauf langsam, ganz langsam in die Publikumsmitte fahren.
Bildquelle: Marco Anelli
In zehn konzentrischen Kreisen stehen Liegestühle mit hellen Tüchern bedeckt. Im Zentrum steht: Nichts. Performance-Künstlerin Marina Abramović macht – wieder einmal – alles anders. Anders als es diejenigen Starpianisten mögen, die sie Primadonnen nennt. Die spielen gerne in Philharmonien, alles ist organisiert: Flügel, richtiges Licht, Blumen rechts, Blumen links.
Nichts davon gibt es in der so genannten Armory auf New Yorks Upper East Side. In der riesigen Exerzierhalle vom Ende des 19. Jahrhunderts, die Holz und Geschichte atmet, deren Deckenkonstruktion sich über der Fläche eines Fußballfeldes wölbt, spielt der russisch-deutsche Pianist Igor Levit die Goldberg-Variationen - in einer Inszenierung von Marina Abramović. 500 Menschen mit Schallschutz-Kopfhörern sehen zu, wie ein Podest mit dem Konzertflügel und Igor Levit darauf langsam, ganz langsam in das Zentrum des Publikums fahren. Unter ihren Kopfhörern hören sie das eigene Blut pochen, erleben eine ganz persönliche Stille. Nicht etwa bloß für drei Sekunden. Nein, für ganze 30 Minuten. So lange dauert die fast unmerkliche Bewegung des Flügels in den Raum. Es ist Meditation, Konzentration, Sammlung. Für manche auch Kurzschlaf. Der wird mit einem Gongschlag unterbrochen: Es ist das Zeichen, die Schalldämpfer abzunehmen. Und dann beginnt die "Aria".
Erst dann, wenn wirklich alle - und ich auch - auf Null gefahren sind, erklingt das Werk.
1/13
Bildquelle: Marco Anelli
2/13
Bildquelle: James Ewing
3/13
Bildquelle: James Ewing
4/13
Bildquelle: James Ewing
5/13
Bildquelle: James Ewing
6/13
Bildquelle: James Ewing
7/13
Bildquelle: James Ewing
8/13
Bildquelle: Marco Anelli
9/13
Bildquelle: James Ewing
10/13
Bildquelle: James Ewing
11/13
Bildquelle: James Ewing
12/13
Bildquelle: Marco Anelli
13/13
Bildquelle: James Ewing
Abramovićs Inszenierung der "Goldberg-Variationen" ist das Gegenprogramm zum dauerstressigen, ermüdenden New York. Der halbdunkle Raum, kaum erhellt von Lichtdesigner Urs Schönebaum, der während des knapp eineinhalbstündigen Konzertes sich nur einmal um die eigene Achse drehende Podest mit dem Flügel - alles dient den 30 Variationen und zwei Arien. Für Marina Abramović ist es ein Rollenwechsel. Bekannt ist die Performance-Künstlerin für belastende Selbsterfahrungen. Bei "The Artist is present" im New Yorker Museum of Modern Art blickte sie mehr als zwei Monate lang Besuchern in die Augen - täglich stundenlang. Sie setzte sich Schmerz und Nacktheit aus - sich und ihr Publikum. Diesmal aber gehe es nicht um ihre Performance, sie stelle sich selbst hinten an, diene Igor Levit und seiner Musik, sagt Abramovic. Die Befreiung von Handys und Uhren ist keine schlichte Technikkritik für die Performance-Künstlerin. Es gehe nicht um das "ob", sondern das "wie". Um unser Verhältnis zur Technik.
Kunst kann den Geist erheben. Und das brauchen wir gerade heute so sehr.