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Lucas Debargue im Interview "Auch die Spezialisten kennen Mozart nicht"

Der 1990 geborene Lucas Debargue wuchs in einer Familie auf, in der Musik keine Rolle spielt. Mit elf Jahren saß er zum ersten Mal am Klavier, hatte aber bald wieder andere Interessen. 2015 hat er nach kurzer Rückbesinnung auf das Instrument den Tschaikowsky-Wettbewerb in Aufruhr versetzt. Im Interview mit BR-KLASSIK erklärt er, warum es für ihn keinen Säulenheiligen in der Musik gibt.

Bildquelle: Felix Broede Sony Music Entertainment

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Der Pianist Lucas Debargue

BR-KLASSIK: Sie haben mit elf Jahren begonnen, Klavier zu spielen, mit 15 haben Sie damit fast wieder aufgehört - zumindest wurde es von vielen anderen Interessen überlagert, die Sie damals verfolgt haben. So richtig ernsthaft haben Sie sich erst wieder mit 20 dem Klavier zugewandt. Sie haben sich auf den Tschaikowsky-Wettbewerb vorbereitet und ihn 2015 Jahr erfolgreich absolviert. Was sagen Sie denn den vielen vielen Musikern, die seit Kindesbeinen an ausschließlich üben?

Ich musste einen Weg finden, wie mein Hirn auch ohne Klavier arbeitet.
Lucas Debargue

Lucas Debargue: Ich würde einfach sagen, jeder muss seinen eigenen Weg finden, sein Ziel zu erreichen. Ich kann nur über meinen eigenen Weg reden, jedenfalls hätte ich es nicht geschafft wie verrückt zu üben, denn ich habe spät angefangen mit dem Klavier und habe andere Dinge gemacht. Ich kann die Zeit nicht zurückholen, in der die anderen Klavier geübt haben während ich mit anderen Dingen beschäftigt war. Also ich kann da keinen Ratschlag geben, ich bin da kein Beispiel. Ich hab es halt anders gemacht als andere und musste einen Weg finden, bei dem mein Gehirn auch ohne Klavier arbeitet, weil ich kein Klavier in Paris habe. Ich habe zwar ein paar Möglichkeiten zum Üben, aber nicht für acht Stunden am Tag. Ich konnte noch nicht mal acht Stunden üben, als ich mich auf dem Tschaikowsky-Wettbewerb vorbereitet habe. Wie auch immer, ich fühle mich auch nicht in der Lage mich acht Stunden am Tag auf eine Sache zu konzentrieren. Wichtig ist, dass man immer genau weiß, was man musikalisch macht, warum man etwas macht. Es ist sehr wichtig, dass man den Grund dafür weiß und nicht automatisch spielt. Ich muss immer wissen, was mache ich hier, was dort und ich will immer nah am Notentext sein.

BR-KLASSIK: Sie haben neben dem Klavierspiel auch andere Interessen, können und wollen sich nicht so fokussieren. So weit ich weiß spielen Sie gerne E-Bass, Literatur ist Ihnen wichtig, Freunde sind Ihnen wichtig und ganz viele andere Dinge sind auch wichtig. Kann es sein, dass Sie dem Klavier und uns damit irgendwann wieder abhanden kommen?

Lucas Debargue | Bildquelle: © Felix Broede/Sony Classical Bildquelle: © Felix Broede/Sony Classical Lucas Debargue: Im Moment nein. Ich habe viele Engagments und will das Beste daraus machen und ein Top-Level erreichen, denn selbst nach dem Tschaikowsky-Wettbewerb war ich noch nicht auf einem A-Level. Also die Spitze ist noch nicht erreicht! Das ist keine Frage von Ehrgeiz im Sinne von Angeberei oder Star-Sein, das ist eine Frage des persönlichen Ziels und ich konzentriere mich gerade genau darauf. Ich lese weniger Bücher und andere Sachen, ich spiele keinen Jazz mehr, ich bin in keiner Band mehr. Es ist irgendwie schade, aber es ist auch gut, dass ich die Möglichkeit habe, mich auf eine Sache zu konzentrieren und voll drin zu sein in diesem Prozess. Ich möchte das für ein paar Jahre probieren und sehen, ob es gut für mich ist, oder ob ich dringend etwas anderes brauche. Ich kann das jetzt noch nicht beurteilen, weil ich eigentlich erst seit einem Jahr Konzerte gebe.

BR-KLASSIK: Gestern Abend habe ich im Netz ein Paar Videos von Ihnen gesehen, insbesondere mit den Scarlatti-Sonaten. Ich hatte das Gefühl - auch weil man Ihnen auf die Finger und ins Gesicht schauen konnte -, dass Sie immer eine kleine Geschichte erzählen. Und es scheint, dass Sie vieles genau so machen, wie Sie es wollen und gar nicht so strikt und pedantisch mit der Musik umgehen. Woher nehmen Sie Ihre musikalischen Autoritäten, Ihre Wahrheiten?

Lucas Debargue: Ich vertraue sehr auf die Noten. Manche Leute, Spezialisten oder Kritiker, könnten mir Vorwürfe machen in Stil-Fragen - aber das zählt für mich nicht, denn ich bin kein bisschen an Stil-Fragen interessiert, auch nicht an musikgeschichtlichen Epochen. Warum? Ich denke, man lebt in einer bestimmten Zeit, also zum Beispiel eben 2016 - und das bedeutet, wir müssen mit dem umgehen, was uns umgibt. Heutzutage spielen wir auf Konzertflügeln - und da ergibt es für mich keinen Sinn eine historische Aufführung anzustreben. Der einzige Weg, die Haltung eines alten Komponisten zu erreichen, ist, so zu sein wie er zu seiner Zeit. Also damit zurechtzukommen, was seine Umgebung zu bieten hatte. Ich interessiere mich mehr für die Verbindungen: zum Beispiel, wie sich in der ersten Ballade von Chopin Überbleibsel von Mozart finden - von der Fantasie in c-Moll zum Beispiel, oder von Bachs Kontrapunkt.

Ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, Mozart zu spielen, wie ihn Spezialisten von heute besonders zu kennen glauben. Denn sie kennen Mozart nicht!
Lucas Debargue

Lucas Debargue: Ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, Mozart zu spielen, wie ihn Spezialisten von heute besonders zu kennen glauben. Denn sie kennen Mozart nicht! Mich interessiert, was Mozart direkt in die Noten geschrieben hat. Der einzige Schlüssel zu einem Werk ist, mit einem Werk zu leben, Zeit damit zu verbringen, alles zu verschlingen, was man aus den Noten lesen kann - in verschiedene Editionen zu gucken, um zu versuchen zu verstehen, was da steht. Bei Scarlatti gibt es nur wenige Einzeichnungen in den Noten, sehr interessant. Wenn man alles eingezeichnet hat - in romantischen Partituren zum Beispiel - gibt das Anlass für viele Diskussionen, denn man hat ein Piano hier, ein Forte hier - man kann immer darüber streiten, welches Piano, welches Forte gemeint ist. Aber in den Scarlatti-Noten hat nichts außer den Platz zwischen den Noten - und in diesem Platz muss man einen Weg finden zum Klang, um das Stück zum Sprechen zu bringen. Darum allein geht es. Wenn ich einen Scarlatti erarbeite, denke ich nicht: Was mache ich hier? Was mache ich, dass es original klingt? Ich denke nicht an Lucas Debargue, wenn ich an Scarlatti arbeite. Ich schaue einfach nur in die Noten und versuche mein Bestes, um es auszudrücken, um es zum Sprechen zu bringen. Oft gibt es keine Tempo-Angaben. Wenn man Akkorde in der linken Hand hat und Melodie in der rechten Hand, dann sehe ich keinen Sinn darin, geradeaus, strikt nach Metronom zu spielen. Man braucht diese Zeit, um die Melodie über den Harmonien zu gestalten.

BR-KLASSIK: Ihre Karriere ist noch ziemlich jung. Sie spielen viele Komponisten - ein bisschen frech ausgedrückt - durcheinander: Sie spielen Scarlatti, Ravel, Liszt, Rachmaninoff, Chopin und eine Menge mehr. Gibt es trotzdem jemanden, der für Sie die Krönung auf dem Klavier darstellt?

CD-Cover: Lucas Debargue - Scarlatti, Chopin, Liszt, Ravel | Bildquelle: Sony Classical Bildquelle: Sony Classical Lucas Debargue: Natürlich faszinieren mich viele musikalische Persönlichkeiten: Beethoven, Mozart, Schubert, Haydn und Barock-Komponisten. Noch mehr fasziniert mich das Geheimnis hinter dem "einen Stil" einer bestimmten Zeit. Ich nenne das Referenz-Stil. Heutzutage, nach vielen musikalischen und kompositorischen Experimenten, haben wir keinen einheitlichen Stil - denn einige Komponisten schreiben tonal, andere atonal, manche experimentell mit elektroakustischen Elementen. Es gibt also nicht mehr die Referenz. Bei Haydn, Beethoven und Schubert ist das anders, die hatten einen Referenz-Stil: den klassischen Stil. Das bedeutet eine bestimmte Form - wie die Sonatenform, die zweithematische Struktur, eine Art zu orchestrieren, eine Art, die musikalischen Elemente zu organisieren. Und damit gingen dann die Komponisten unterschiedlich um. Das ist für mich das Geheimnis: In Mozarts Musik sind dieselben Harmonien wie in allen anderen Werken seiner Zeit. Aber es gibt ein großes Geheimnis: Wenn man Mozarts Musik hört, erhebt es einen - im wörtlichen Sinne. Und man kann nicht erklären, warum. Natürlich ist es geniales Komponieren und Musizieren, aber das verwendete Material ist dasselbe, das alle anderen verwendet haben. Das fasziniert mich! Er hat keinen eigenen Stil erschaffen. Verstehen Sie?

Wenn man Mozarts Musik hört, erhebt es einen - im wörtlichen Sinne. Aber er hat keinen eigenen Stil erschaffen.
Lucas Debargue

Das Interview für BR-KLASSIK führte Annika Täuschel.

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