Unter dem Motto "Cosmic Calendar" hat die Pianistin Marina Baranova ein neues Album veröffentlicht. Und da stehen nicht Sternbilder oder Planeten im Mittelpunkt, sondern der Blick auf die Welt aus der Weltallperspektive. Und mit dieser Perspektive wären für die gebürtige Ukrainerin Kriege und Hass eigentlich unmöglich.
Bildquelle: Gregor Hohenberg
BR-KLASSIK: Marina, dein neues Album heißt "Cosmic Calendar". Du hast dich viel mit dem Universum und mit dem Weltall beschäftigt. Hast Du denn vielleicht ein Lieblingssternbild, einen Lieblingsplaneten?
Marina Baranova: Ehrlich gesagt hat mich zu diesem Album etwas anderes inspiriert. Und zwar geht es um Perspektivwechsel. Also nicht die Vogelperspektive, sondern Weltall- oder Universumperspektive. So, wie Aliens uns vielleicht sehen würden. Dann wäre die Erde nur ein kleiner Punkt. Und auf diesem kleinen Punkt sind alle, die wir lieben, alle, die wir hassen, alle, die jemals gelebt haben. Und was mich am meisten beeindruckt: Wenn man das Ganze aus dieser Perspektive sieht, dann sind eigentlich Krieg und Haas überhaupt nicht möglich, da dann alles so unbedeutend erscheint.
Einmal durch die Milchstraße schweben und vielleicht sogar einem Außerirdischen begegnen: Das wäre ein großer Traum der ukrainischen Pianistin und Komponistin Marina Baranova. Sie packt das Universum und seine Millionen Jahre alte Geschichte in zwölf knackige Stücke – auf ihrem neuen Album "Cosmic Calendar". Eine ehrfürchtig schöne Liebeserklärung an den Weltraum und ein Aufruf an uns Menschen, den Blick für das große Ganze und den Frieden zu weiten. Im April ist Marina Baranova Gast des Monats in der Sendung SWEET SPOT, zu hören immer montags ab 20:05 Uhr auf BR-KLASSIK.
BR-KLASSIK: Du wurdest in der Ukraine geboren. Was geht in Dir vor, wenn Du von Deutschland aus beobachtest, was dort gerade passiert?
Marina Baranova: Ich bin dort geboren und habe die ersten 19 Jahre dort gelebt. Wir waren ein Teil der Sowjetunion. Und dann hat sich die Ukraine irgendwann selbstständig gemacht. Ich weiß noch, wie wir uns gefragt haben: Wie schaffen wir das als kleines Land – im Vergleich zu Russland? In der Schule habe ich noch Russisch gesprochen. Es gab kein Ukrainisch, nicht im Fernsehen und auch nicht in der Schule. Nirgendwo. Man hatte überhaupt kein Selbstbewusstsein dafür. Und dann bin ich mit 19 nach Deutschland gekommen. Seitdem war ich tatsächlich nur zweimal in der Ukraine. Und ich war einfach unfassbar erstaunt über diese Entwicklung, die ich nicht selbst erlebt habe, wie sich das Selbstbewusstsein der Ukrainer entwickelt hat. Alle, egal ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen des Landes kommen, beherrschen Ukrainisch als Muttersprache. Ich sehe das Ganze ein klein wenig wie eine schreckliche Ehe … Irgendwann hat sich die Ukraine wie eine Ehefrau getrennt und gesagt: Ich möchte allein leben. Und der böse Ehemann, also die Sowjetunion oder Russland, hat nur darauf gewartet, bis die Ehefrau zusammenbricht – so nach dem Motto: Ohne mich schafft sie sowieso nichts. Doch auf einmal muss er mitansehen, dass es ihr sogar wunderbar geht und sie sich sogar nach Europa sehnt. Ich sehe das so, und das ist meine persönliche Meinung: Man kann handeln, indem man loslässt und sagt: Okay, ja, sie hat es geschafft. Oder man kann einfach den Krieg anfangen und sagen: Nein, ich zeig dir, dass Du in zwei Tagen vernichtet bist.
Der Krieg hat mir gezeigt, wie stark ich mit der Ukraine verbunden bin.
BR-KLASSIK: Dann warst Du seit Kriegsbeginn nicht mehr in der Ukraine?
Marina Baranova: Nein. In meinem ersten Jahr in Deutschland bin ich zweimal in die Ukraine gefahren. Und dann habe ich gemerkt, dass ich es nicht schaffe, in Deutschland anzukommen. Denn ich wollte mich hier zuhause fühlen und integrieren und auch verstehen, wie diese Gesellschaft funktioniert. Deshalb habe ich die Ukraine tatsächlich erstmal quasi von mir weggeschoben – und musste auch immer wieder ein bisschen schmunzeln, als ich in Artikeln nach 15 oder 20 Jahren hier in Deutschland immer noch von der "ukrainischen Pianistin" gelesen habe. Aber mit Ausbruch des Krieges habe ich doch festgestellt, dass ich diesen Teil von mir überhaupt nicht wahrgenommen habe. Doch das ist meine Vergangenheit, die mir sehr viel bedeutet. Und der Krieg hat mir persönlich sozusagen gezeigt, wie stark ich doch mit der Ukraine verbunden bin.
BR-KLASSIK: Wie fühlt sich das für Dich an, wenn Du jetzt hier in Hannover sitzt und im Fernsehen oder Internet siehst, was der Krieg dort anrichtet?
Marina Baranova: Ehrlich gesagt, ich kann das nicht mal beschreiben. Als meine Kinder geboren wurden, dachte ich mir: Irgendwann, wenn sie groß genug sind, fahren wir mal gemeinsam nach Charkiw und dann zeige ich ihnen meine Schule und den Ort, wo ich aufgewachsen bin. Denn natürlich fragen sie mich nach meiner Kindheit. Doch es gibt diese Vergangenheit nicht mehr. Das ist wie ein wie ein Albtraum. Dieses Zuhause gibt es nicht mehr. Und diese Gedanken erschüttern mich wirklich sehr.
Dieses Zuhause gibt es nicht mehr.
BR-KLASSIK: Hast Du noch Kontakt zu Freundinnen, Freunden, Familie oder Lehrern vor Ort?
Marina Baranova: Ja, den habe ich noch – beziehungsweise ich habe Kontakt aufgenommen. Einen Teil von ihnen konnte ich sogar hier nach Hannover holen und konnte somit direkt helfen. Das Allerschlimmste waren die ersten Wochen des Krieges. Ich habe das alles miterlebt über Bilder, die mir von Bekannten geschickt wurden, zum Beispiel, dass einige jetzt in der U-Bahn wohnen. Und das waren nicht irgendwelche Bilder aus den Medien, sondern von meiner Freundin, mit der ich mal zur Schule gegangen bin. Man fühlte sich so hilflos, denn es gab keine Möglichkeit zu helfen, nicht mal Geld konnte ich überweisen, weil die Banken alle dicht waren. Das war ganz dramatisch. Dann habe ich angefangen, einige hierher nach Deutschland zu holen – so konnte man sich dann wenigsten um sie kümmern: ein Zuhause suchen, vielleicht auch Arbeit oder einen Platz im Kindergarten und in der Schule. Dann habe ich angefangen, viele Benefizkonzerte zu veranstalten und auch selber zu spielen. Dadurch gelang es uns, viel Geld für Lebensmittel und humanitäre Hilfe zu sammeln.
BR-KLASSIK: Da Du aus einer jüdischen Familie kommst: Versuchst Du auch selbst, gegen Antisemitismus aktiv vorzugehen und dem entgegenzutreten, was auch hier in Deutschland leider immer wieder aufkeimt?
Marina Baranova: Ach, das ist ein wirklich komplexes Thema. Ehrlich gesagt, habe ich mich lange nicht getraut, mich dazu zu äußern. Denn in der Ukraine haben mir meine Eltern verboten, jemals zu erwähnen, dass ich Jüdin bin, und bis zum 19. Lebensjahr habe ich niemals laut gesagt, dass ich Jüdin bin. Und diese Angst sitzt so tief, dass ich mich tatsächlich zum allerersten Mal 2022 mit dem Album "White Letters" mutig genug dazu fühlte. Das ist quasi ein Album über meine Herkunft als jüdische Ukrainerin, in das so viele Gedanken und Impulse fließen. Und jetzt kippt das Ganze schon wieder. Diese Angst vor Antisemitismus sitzt so tief in den Juden – und ich merke, was es für eine Überwindung für mich darstellt, wenn ich zum Beispiel das Programm von "White Letters" spiele. Da kommt in mir innerlich so plötzlich eine Angst auf, die ich nicht kontrollieren kann. Und das ist etwas, womit ich niemals gerechnet hätte.
Ich versuche, an mir zu arbeiten und erstmal eine Art Urvertrauen zu entwickeln – und auch irgendwie nachzuvollziehen, wie das überhaupt möglich ist, aufgrund seiner Herkunft Hass zu erfahren. Denn das bekomme ich einfach nicht in meinen Kopf. Wenn ich das verstehen und so an mir arbeiten könnte, dass diese Angst nicht aufkommt, dann könnte ich eventuell als nächsten Schritt der Öffentlichkeit erklären und zeigen, wie man sich fühlt, wenn man eine andere Herkunft hat. Ich denke, das Einzige, was ich machen kann, ist tatsächlich, von mir zu erzählen und die Begegnung zu suchen, um gegen Antisemitismus zu kämpfen. Wobei ich glaube, dass Kämpfen nicht funktioniert, denn ein Kampf ist immer irgendwie auch Krieg. Ich versuche, Aufklärung und Empathie duch Begegnung zu schaffen.
BR-KLASSIK: Was hilft Dir denn, wenn Dir dieses ganze Weltgeschehen zu viel wird? Woraus ziehst Du für dich Kraft?
Marina Baranova: Offensichtlich die Musik. Dann nehme ich weitere Stücke auf – in der Hoffnung, dass das die Welt vielleicht ein bisschen besser macht. Insgesamt glaube ich einfach an die Kunst: an Musik, aber auch an Literatur. Sie schaffen diesen Perspektivwechsel und kreieren so etwas wie einen Gegenpol zu Hass. Daran glaube ich ganz stark – und das spüre ich auch tagtäglich.
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