Am 28. Juli wurde der italienische Dirigent Riccardo Muti 75 Jahre alt. 1981 gab er 40-jährig mit dem Verdi-Requiem sein Debüt beim Chor und Symphonieorchester des BR. Seither kehrt er regelmäßig nach München zurück - so auch am 17. und 18. Dezember 2015 mit Werken von Schubert und Cherubini. Im Interview sprach er über diese beiden Komponisten, über Spiritualität und die Kunst des Dirigierens.
BR-KLASSIK: Maestro Muti, Sie dirigieren das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Franz Schuberts 4. Symphonie. Hat sich Schubert in dieser Symphonie bereits mit Beethoven auseinandergesetzt?
RICCARDO MUTI: Wir wissen, dass Schubert Beethoven bewundert hat. Leider hat er viele seiner Symphonien nicht gehört, weil sie erst nach seinem Tod aufgeführt wurden. Aber bestimmt ist in dieser Musik von Schubert der Einfluss des frühen Beethoven zu hören. Die "Tragische Symphonie" von Schubert ist eine der dramatischsten. Mit einem zweiten Satz wie ein Lied ohne Worte. Das Scherzo ist sehr beethovenartig. Die Energie im ersten und zweiten Satz auch. Ein typischer Schubert aber ist die langsame Einleitung im ersten Satz. Das Allegro wiederum, das innere Agitato darin, ist auch typisch Beethoven. Aber Schubert bleibt Schubert. Er ist ein europäischer Komponist, der Musik anderer Komponisten absorbiert. Hauptsächlich von Beethoven und der italienischen Musik.
BR-KLASSIK: Die Symphonie steht in c-Moll, das ist eine Tonart der Tragik, der Tiefe. Schumann hat einmal über die Symphonie gesagt, dass sie die Ansprüche ans Tragische nicht erfüllt. Was denken Sie?
RICCARDO MUTI: Die Tatsache, dass eine Symphonie in Dur oder hier in Moll steht, erschafft natürlich einen bestimmten Geistes- oder Seelen-Zustand, einen Schmerz. Die Tragische Symphonie bringt allerdings den Triumph der guten Kräfte über die bösen Kräften, sei es der Menschheit oder der Gesellschaft. In diesem Sinn ist die Musik an Beethoven orientiert. Wie in der Fünften Symphonie von Beethoven. Oder wie das Ende von Fidelio. Es braucht den Frieden, die Freundschaft und Brüderlichkeit. Das ist der Sieg des Guten. Und der erfolgt auch am Ende der Tragischen Symphonie.
Aber derselbe Akkord kann ja immer voller unterschiedlicher Gefühle und Bedeutungen sein. Zum Beispiel am Ende von Verdis Requiem auf den Text "Libera me". Das ist ein C-Dur-Akkord. Aber in diesem C-Dur bekommt man nicht das Gefühl von Frieden und Freiheit, von schöner Ruhe, Licht und Spiritualität. Der Akkord bleibt irgendwie zweifelnd. Harmonisch ist zwar klar, dass es ein C-Dur-Akkord ist. Aber für die Zuhörer wird nicht spürbar, ob C-Dur die Tonika oder die Dominante von f-Moll ist. Die Tonalität bleibt in einer Unbestimmtheit. Das überlässt den Zuhörer einem unklaren Gefühl. Libera me – befreist Du mich? Ja, oder nein? Derselbe Akkord kann also verschiedene Farben und Botschaften haben.
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BR-KLASSIK: Das Andante ist ein sehr langer Satz in der Symphonie. Er hat etwas liedhaftes, aber auch eine große Weite...
RICCARDO MUTI: Der Satz ist sehr lang, aber er gibt einem nicht das Gefühl, dass er zu lang ist. Die Melodie trägt einen, die ganzen Elemente sind sehr Wienerisch. Schubert ändert hier jeweils nur kleine Dinge bei denselben Elementen: Manchmal ist der Akzent auf dem Schlag, dann vor dem Schlag. So, als würde jemand weinen. Schubert hat diese wunderbare Qualität, dass er dieselben Elemente nimmt, aber uns immer vermittelt, dass da etwas Neues ist. Das macht fast den Eindruck einer Improvisation. Da ist Schubert ganz anders als Schumann.
Schubert nimmt den Hörer bei der Hand, wie ein Begleiter, ein Freund.
BR-KLASSIK: Mir fällt da das Wort "Schwelgen" ein...
RICCARDO MUTI: Schubert nimmt den Hörer bei der Hand, wie ein Begleiter, ein Freund. Er ist immer sehr freundlich. Das ist das Besondere bei Schubert. Selbst die Sforzati oder das Fortissimo ist bei Schubert niemals brutal, gewalttätig oder verletzend. Man kann ja ein Fortissimo spielen, das nicht brutal ist, und ein Mezzoforte wiederum kann brutal sein. Das Leise ist am schwierigsten. Zumal heute, wo es auf der ganzen Welt die Tendenz sowohl bei Dirigenten, als auch bei Musikern oder Sängern ist, nur in dem Spektrum von Mezzoforte bis Fortissimo zu singen. Irgendwie ist das Pianissimissimo abhanden gekommen. Ich weiß nicht, warum.
Vielleicht, weil der Lärm so dominant ist oder weil wir beeindrucken wollen. Und mit dem Lauten kann man schneller beeindrucken als mit dem Leisen. Das ist der Grund, warum die dritte Brahms-Sinfonie seltener gespielt wird als die anderen drei Brahms-Sinfonien. Denn die Dritte endet im Piano. Und Dirigenten lieben es generell eher, im Fortissimo aufzuhören. Das ist auch ein Grund, warum Cherubini heute nicht soviel aufgeführt wird! Denn Cherubini hat keine einzige Note geschrieben, um das Publikum damit zu begeistern. Alles bei ihm ist der Tiefe der Musik geschuldet.
BR-KLASSIK: Interessant, dass Sie gerade schon Cherubini erwähnt haben. Warum lieben Sie seine Musik so?
RICCARDO MUTI: Also zuerst, weil Beethoven Cherubini geliebt hat. Er war für ihn einer der größten Komponisten. Beethoven hatte Recht. Denn Cherubini ist ein Meister der musikalischen Architektur. Wir erinnern Cherubini nicht wegen seiner schönen Melodien, sondern für seinen Aufbau. Das gilt für seine Messen und für die Opern. Beethoven hat die Größe von Cherubini verstanden. Die Tiefe von Cherubinis Musik. Wie gesagt, Cherubini hat das Publikum nicht ergötzen wollen.
Die bessere Beschreibung von Cherubini kommt von einem Musikwissenschaftler, der das folgendermaßen zusammengefasst hat: "Il fuoco nel marmor." Das Feuer im Marmor. Eine Marmor-Statue, die kalt aussieht, aber innen drin voller Feuer ist. Das ist Cherubini! Wenn man seine Musik spielt, muss man diese Schönheit darin fühlen, es aber nicht übertreiben. Sonst ginge man in die Richtung von Romantizismus. Das aber wäre falsch! Cherubini ist ein Komponist, den ein Dirigent machen sollte, weil er Musik liebt. Nicht, weil er vorm Publikum reüssieren will.
Ich habe die sieben Messen von Cherubini aufgenommen, drei davon mit dem Bayerischen Rundfunk. Darüber bin ich sehr froh. Robert Schumann hat den Marche religioso am Ende der A-Dur Krönungsmesse als sublime Musik bezeichnet. Das war nicht sehr freundlich von Schumann gegenüber einem italienischen Komponisten. Sublim ist nicht das größte Kompliment, dass ein Italiener von einem Komponisten nördlich der Alpen bekommen kann.
BR-KLASSIK: Die Krönungsmesse in A-Dur ist ja auch so interessant, weil keine Solistenstimmen vorkommen. Der Chor wird ganz speziell eingesetzt.
RICCARDO MUTI: Der Chor ist dreistimmig, aber Cherubini hat das so geschickt engelegt, dass man immer den Eindruck einer vollen Stimmbesetzung hat. Man merkt nicht, dass die Mezzosoprane fehlen. Wie ich dem Chor und dem Orchester immer erkläre, ist die Musik von Cherubini voller Gefühle von Affektion. Da ist immer eine Art von Dankbarkeit spürbar, es besteht eine Ähnlichkeit zu Musik von Beethoven. In allen Werken von Beethoven - den Sonaten, den Klavierkonzerten, dem Violinkonzert etc. - immer gibt es den Moment, wo die Musik Beethovens Dankbarkeit gegenüber der Natur ausdrückt. Da kommt nicht bloß von Beethoven als Komponist, sondern von ihm als Mensch. Trotz aller Widrigkeiten, die Beethoven erfahren hat, sagt er immer wieder "Danke". Bei Cherubini ist der Dank religiöser. Es ist ihm wichtig, dass er sich ausrichtet auf das, was über uns ist.
BR-KLASSIK: Das ist gleich am langsamen, getragenen Anfang zu hören. Ich fühle mich da immer an Natur erinnert.
RICCARDO MUTI: Es ist wie eine Orgel. Wie, sagen wir, Bruckner – auch wenn die Musik nichts mit Bruckner zu tun hat. Aber die Musik ist so, als würde einer auf der Orgel den Weg suchen, bevor es mit dem Kyrie losgeht. Es ist ein Offertorium. Kyrie ist eine Anrufung. "Herr, Lord!" Es ist sehr seltsam, wenn man in Griechenland ein Taxi nimmt und der Taxifahrer fragt dich "Kyrie, wohin willst du?" Beim ersten Mal fand ich das sehr komisch. Denn ich habe gedacht, der Fahrer sei ein Experte in der Cherubini-Messe – aber er wollte bloß wissen, wohin ich will.
BR-KLASSIK: Heuer wird viel über Religion diskutiert. Was kann uns religiöse Musik heute sagen?
RICCARDO MUTI: Religiöse Musik heißt, da wurde etwas über einen religiösen Text geschrieben. Aber das Gefühl ist das Entscheidende. Von dem Komponisten wissen wir ja nicht, ob er an einen bestimmten Gott geglaubt hat oder an etwas Transzendentes. Und heute, in einer so problemreichen Zeit wie derzeit, brauchen wir einen vereinenden Gott.
"Kyrie", hab Gnade! Dieses Kyrie kann alle möglichen Namen haben. Das sollen wir verstehen. Das ist die Nachricht. Es ist eine globale Anrufung. Wir fragen nach einer Essenz, nach etwas Transzendentem, das über uns ist. Dabei ist nicht entscheidend, ob das Werk katholisch oder lutherisch oder islamisch oder jüdisch ist. Wir sind alles eins. Wir sind Brüder, so wie Beethoven das gesagt hat. Wir sollten die Messe daher hören wie eine spirituelle Aussage. Aber nicht wie ein Werk, das zu einer bestimmten Kategorie oder einer bestimmten Religion gehört. Die Messe ist universell geworden.
Dirigieren sollte eine spirituelle Angelegenheit sein!
BR-KLASSIK: Dann ist es ja ein Segen, dass Sie als Dirigent solche Musik machen können.
RICCARDO MUTI: Ich weiß nicht, ob Dirigieren ein spezieller Beruf ist. Ich mache das seit vielen Jahrzehnten. Man hatte mich anfangs gefragt, ich selber konnte es mir nicht vorstellen. Aber heute ist es das Einzige, was ich wirklich kann. Alles andere wäre ein Desaster. So war es gut, dass sich das Dirigieren als guter Lebensweg herausgestellt hat.
Dirigieren sollte eine spirituelle Angelegenheit sein. Das heißt, man braucht Kultur, eine Kenntnis von den Menschen. Es sitzen ja Menschen vor einem, die soll man führen. Und das ist das Schwierige an dem Beruf. Man braucht ein ganzes Leben, um das zu verstehen. Wenn man jung ist, will man zeigen, was man kann. Aber mit den Jahren merkt man: Das ist nicht notwendig. Die Wiener Philharmoniker haben mal gesagt, ein richtiger Dirigent kann man erst ab 60 Jahren sein. Als ich 60 wurde, hatte ich ein Konzert im Wiener Musikverein. Da haben sie mir gesagt: "Jetzt sind Sie ein Dirigent!"
Nur heute, fürchte ich, wird Dirigieren eine Kunst zum Selbstzweck. Nämlich die Kunst, die Arme zu bewegen, auf dem Podium zu springen und viele Geräusche zu machen. Wir sollten aber nicht vergessen, was Toscanini gesagt hat: "Die Arme sind nur die Verlängerung des Geistes." Dirigieren ist also keine Show. Die Arme übermitteln bloß etwas. Richard Strauss hat sich auf dem Podium kaum bewegt. Das gilt ebenso für Karajan, Knappertsbusch, Fritz Reiner. Heute aber wird Dirigieren oft eine Show, die aber stört! Die Gesellschaft wird mehr und mehr visuell. Die Menschen wollen generell gesprochen mehr sehen als hören. Das ist gefährlich für die Zukunft.
Ich bin Neapolitaner. Wenn ich Showman auf dem Podium sein will, dann schlage ich da jeden! Denn ich komme aus der Stadt des Theaters! Aber je länger ich arbeite, desto mehr reduziere ich meine Gesten. Klar muss man manchmal auch was geben, das ist ganz natürlich. Aber nicht mit der Attitude: Ich bin hier. Sondern: Die Musik ist hier!
Das Gespräch führte Elgin Heuerding für BR-KLASSIK.