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Richard Strauss' Werk Vom Wesen einer kritischen Ausgabe

Richard Strauss war einer der wenigen Komponisten, dessen Werke unmittelbar nach der Entstehung gedruckt und verbreitet wurden. Diese historischen Erstdrucke waren praktische Ausgaben, die unter hohem Zeitdruck entstanden und einige Fehler enthielten. Ein Forschungsprojekt des Instituts für Musikwissenschaft in München will nun innerhalb der nächsten 25 Jahre die wichtigsten Werke von Richard Strauss als kritische Ausgabe herausbringen. Gerade ist "Macbeth" erschienen, Stefan Schenk war maßgeblich daran beteiligt.

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Das Interview zum Anhören

BR-KLASSIK: Stefan Schenk, Sie haben sich Monate oder sogar Jahre mit Richard Strauss beschäftigt, vor allem mit "Macbeth", das jetzt in der kritischen Ausgabe erschienen ist. Wie sah Ihr Arbeitsalltag in dieser Zeit aus?

Stefan Schenk: Es war sehr unterschiedlich, je nachdem in welchem Stadium ich mich befand. Am Anfang stand die Quellensuche - und das ist oft mit Reisen verbunden. Um die spektakulärste vorweg zu nehmen: Wir sind 2011 nach New York geflogen, um uns das Partitur-Manuskript von "Macbeth" anzuschauen, das in der Morgan Library in Manhattan liegt. Dort wird man durch eine Sicherheitsschleuse in einen Raum reingelassen, der auf 16 Grad abgekühlt ist. Man sitzt dann da, wie ein armer frierender Poet, unter den strengen Augen der Verwalter dieser Schätze, und darf acht Stunden lang die Partitur studieren.

BR-KLASSIK: Sie waren sicher auch in Garmisch-Partenkirchen in der Villa, in der Richard Strauss gelebt hat.  

Stefan Schenk: Ja, auch dort haben wir Zugang. Die Familie Strauss gehört zu unseren größten Helfern, die selbst viele Autographe besitzen und in der Garmischer Villa archivieren. Dort sind sehr wertvolle Sachen im Tresor gelagert. Manches davon wurde uns auch vorgelegt. Nachdem wir viele Quellen abfotografiert oder als digitale Reproduktionen gesammelt haben, begann das Vergleichen. Wir versuchen auch festzustellen, wie sie untereinander zusammen hängen.

Wir gehen auf die Quelle zurück - das ist das Wesen einer kritischen Ausgabe.
Stefan Schenk

Es ist also nicht so, dass wir irgendeinen Druck nehmen und sagen: "Der könnte es sein" oder "Es kommt uns noch irgendetwas spanisch vor" und "Da ändern wir etwas". Sondern wir gehen auf die Quellen zurück - das ist das Wesen einer kritischen Ausgabe. Der Quellenvergleich erklärt uns dann fast immer Ungereimtheiten in den Noten. Und dann versuchen wir, es auf den Stand zu bringen, von dem wir denken, dass er Strauss' Willen entspricht. Das ist Schreibtischarbeit.

BR-KLASSIK: Gab es dabei Momente, wo Sie überrascht waren oder gestaunt haben?

Stefan Schenk: Ich habe zum Beispiel auf der Suche nach ganz anderen Dingen den Brief in die Hand bekommen, in dem Strauss an den Stardirigenten Hans von Bülow ganz genaue Tempoangaben geschrieben hat, weil er verhindern wollte, dass er in einer Weise dirigiert, die dem Stück nicht angemessen ist. Das war damals Neue Musik und schwer zu verstehen - und da hat er minutiös aufgeschrieben: Vom Takt soundso bis zum Takt soundso bitte langsam auf 176 steigern und dann wieder zurücknehmen. Das ist wahnsinnig interessant. Es stehen natürlich in den Partituren irgendwelche Zahlen drin, aber man weiß nicht so recht, wo sie herkommen. Jetzt wissen wir es.

Das Rollenverständnis der Salome hat sich für Strauss geändert.
Stefan Schenk

Meine Kollegin Claudia Heine kann durch das Studium von vielen Briefen und Archivmaterialien nachweisen, dass sich das Rollenverständnis der Salome für Strauss selber geändert hat. Er hat sich später die Salome als eine lyrische Sopranistin vorgestellt. Das ist natürlich eine ganz andere Art von Erotik. Da ist etwas verspielt-Kindliches bei der ganzen Grausamkeit dabei. Vorher war das eher ein kräftiges Mistviech.

Und mit der Tondichtung "Macbeth" haben wir immerhin eine bisher noch nie gedruckte zweite Fassung entdeckt - insgesamt sind es drei, die Dritte ist die gültige. Die Zweite sehen wir jetzt Seite für Seite neben der dritten Version im Notenband gegenüber gestellt. Das heißt, man kann selber vergleichen, was Strauss innerhalb der zwei Jahre, die zwischen den Fassungen liegen, dazugelernt hat. Das ist jeden Tag ein Erlebnis.

Man hat zu Strauss' Zeit sehr unter Zeitdruck gearbeitet.
Stefan Schenk

BR-KLASSIK: Das heißt, dass für die Ausgaben von früher viele Quellen gar nicht herangezogen wurden, sondern sie wurden einfach schlampig auf den Markt geworfen?

Stefan Schenk: Es ist nicht einmal Schlamperei. Man hat zu Strauss' Zeit sehr unter Zeitdruck gearbeitet. Und dafür sind die Ausgaben erstaunlich gut, aber es sind natürlich jede Menge Fehler drin, und bis heute ist nicht der Versuch unternommen worden, diese Fehler zu bereinigen. Man hat einfach immer wieder die alten Druckplatten reproduziert - das ist noch echte Handarbeit. Man hat nur die Überschriften ausgetauscht, aber die Noten sind die Gleichen. Das gilt für fast alle Werke von Strauss.

BR-KLASSIK: Haben Sie auch das Aufführungsmaterial, das Strauss benutzt hat, als Quelle? Er hat ja auch selbst aus eigenen Partituren dirigiert. Ziehen Sie diese heran?

Stefan Schenk: Die ziehen wir auf jeden Fall heran, wenn wir es wissen. Aber das ist natürlich sehr schwierig. Diese Stimmen sind sehr, sehr alt und sind über die Jahre immer wieder verwendet worden. Es hat ja niemand gesagt: "Oho, heute hat Strauss dirigiert, das tun wir jetzt in den Kühlschrank und das wird nie wieder verwendet." Das war Alltag, dass die nächsten Dirigenten wieder andere Einzeichnungen verlangt haben, sodass wir eigentlich in den Stimmen ganz selten rekonstruieren können, welche Anweisungen von Strauss stammen. Aber natürlich schauen wir solche Stimmen durch, und wenn uns dort etwas interessant vorkommt, schauen wir bei den anderen Quellen besonders auf diese Stellen.

Das Gespräch führte Uta Sailer für die BR-KLASSIK-Sendung "Leporello" am 12. April 2017.

Mehr zum Strauss-Forschungsprojekt

Ausführliche Informationen zur kritischen Ausgabe von Strauss' Werken unter www.richard-strauss-ausgabe.de

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