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Ben-Haim-Forschungszentrum Jüdische Musik suchen, finden, aufführen

Jüdisches Musikleben zur NS-Zeit, das ist ein Forschungsschwerpunkt des Ben-Haim-Zentrums in München, das 2020 ins Leben gerufen wurde. Was hat sich seither getan? Ein Gespräch mit dem Leiter Tobias Reichard im Vorfeld eines Konzerts am 03. Februar.

Paul Ben-Haim | Bildquelle: National Library of Israel

Bildquelle: National Library of Israel

BR-KLASSIK: Herr Reichard, angesprochen von meiner achtjährigen Tochter habe ich gesagt, Sie kümmern sich darum, dass Musik, die in der Nazizeit verboten worden ist, und Menschen, die in der Nazizeit verfolgt worden sind, nicht vergessen werden. Trifft es das? 

Tobias Reichard: Das trifft es sehr gut. Meine Aufgabe am Ben-Haim-Forschungszentrum an der Musikhochschule ist es, die Werke von verfolgten Musikerinnen und Musikern wieder in den regulären Konzertbetrieb zu integrieren. Es geht also nicht nur darum, Erinnerungsarbeit zu leisten, die natürlich auch wichtig ist. Aber mein Hauptanliegen ist es eigentlich, dass diese zahllosen Werke, die verdrängt und vergessen wurden, wieder in den Konzertbetrieb aufgenommen werden und einfach als das wahrgenommen werden, was sie sind: Nämlich ganz häufig sehr gute Musik.  

Mein Hauptanliegen ist es, die Werke wieder in den regulären Konzertbetrieb aufzunehmen.
Tobias Reichard, Leiter des Ben-Haim-Forschungszentrums München

 BR-KLASSIK: Vor vier Jahren ist das Forschungszentrum eröffnet worden. Sind Sie überrascht über die Menge, die da auszugraben ist? 

Tobias Reichard:  Absolut. Allein an der Münchner Musikhochschule gibt es über hundert Personen, die entweder zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ausgegrenzt wurden, auch aus der Hochschule rausgeworfen wurden oder davor an der Musikhochschule studiert oder als Dozenten gearbeitet hatten. Das macht die Aufgabe einerseits sehr anspruchsvoll, aber auch sehr ergiebig, weil man einfach auf so viele Einzelbiografien stößt, von denen man bislang noch nichts gehört hat.   

Dachbodenschätze und Schätze per Post 

BR-KLASSIK: Wie und wo finden Sie diese Biografien und dazugehörige Werke?

Tobias Reichard: Der oft zitierte Dachboden spielt immer mal wieder eine Rolle. Auch kommt es vor, dass Personen mich im Anschluss an Konzerte ansprechen und mir sagen, sie hätten jemanden in der Bekanntschaft gehabt oder Verwandte, die eben einen Verfolgungshintergrund hatten. Dann schicken sie mir teilweise die Noten zu.  

Wie erinnert man an Personen, die nicht komponiert und ein Verfolgungshintergrund haben?
Tobias Reichard 

Aber eine etwas schiefe Vorstellung ist, dass man sich dieser Zeit allein über Kompositionen nähern kann. Natürlich war der Großteil dieser Menschen aufführende Musikerinnen und Musiker. Da stellt sich die Frage, wie erinnert man eigentlich an solche Personen, die beispielsweise Kontrabass gespielt haben und ein Verfolgungshintergrund haben? Wie erinnert man an deren Lebenswirklichkeit in der Zeit des Nationalsozialismus? 

BR-KLASSIK: Und was ist die Antwort? Wie machen Sie es?  

Tobias Reichard | Bildquelle: Hochschule für Musik und Theater München Tobias Reichard, Leiter des Ben-Haim-Forschungszentrums München | Bildquelle: Hochschule für Musik und Theater München Tobias Reichard: Wir versuchen, die Biografien zu rekonstruieren so gut es eben geht. Wir versuchen, herauszufinden welche Werke aufgeführt wurden. Es gab in der Zeit des Nationalsozialismus ja schon ein jüdisches Kulturleben, wobei man sich das nicht als einen Freiraum vorzustellen hat, sondern als etwas, was massiv von den Nationalsozialisten kontrolliert war. Aber nichtsdestotrotz bot dieses Kulturleben jüdischen Musikerinnen und Musikern – und ich sage hier ausdrücklich auch Musikerrinnen, denn davon gab es auch eine ganze Menge – die Möglichkeit, ihrer Tätigkeit zumindest ein Stück weit noch nachgehen zu können. Aber es ging gar nicht so sehr immer darum, über Musik eine jüdische Identität auszudrücken. Sondern im Gegenteil, es kann auch darum gehen, wenn man eine Beethoven-Sinfonie aufführt, die Zugehörigkeit zu Deutschland, zu einem deutschen Kulturkreis zum Ausdruck zu bringen.  

Ein Puzzle – ohne Rand und mit fehlenden Teilen  

BR-KLASSIK: Es ist eine Ausgrabungsarbeit, die Sie da leisten. Können Sie abschätzen, wieviel niemals ausgegraben werden wird, weil es wirklich ausgelöscht worden ist?   

Tobias Reichard: Darüber kann man letztendlich nur spekulieren. Aber man kann davon ausgehen, dass man den überwiegenden Anteil an Quellen und Dokumenten heute nicht mehr auffinden kann. Das geht zum Beispiel los bei Personen, die nachweislich bei uns an der Hochschule studiert haben, wo wir zum Beispiel ein Zeugnis im Archiv liegen haben. Da kann man sich ganz grob eine Vorstellung davon machen, wann die Person geboren wurde, was sie studiert hat, welche Noten sie studierte etc. Aber darüber hinaus, über die weitere Biografie ist oft gar nichts mehr herauszufinden. Also sind es wirklich Puzzlesteine und Mosaiksteine, die es zu suchen gilt. Auch wenn man sich von vornherein klar sein muss, dass das am Ende vermutlich nicht das ganze Bild ist, das man rekonstruiert.   

Bewegende Einzelschicksale  

BR-KLASSIK: Wie abgeklärt können Sie damit umgehen? Persönlich und emotional. Wenn Sie so einen Namen sehen, lesen, dem nachgehen wollen und sehen: Nein, da kommt nix?

Tobias Reichard: Also natürlich ist es so, wenn man sich viel mit dieser Zeit beschäftigt und auch mit den Biografien und der Verfolgungsgeschichte, dass man immer wieder auf Zusammenhänge trifft, die einem irgendwie bekannt vorkommen. Und man versucht das dann einzuordnen. Dadurch entsteht auch eine gewisse Abgeklärtheit mit diesen Themen. Aber es gibt dann trotzdem immer wieder einzelne Biografien, einzelne Lebensberichte, die einen nochmal irgendwie packen.

BR-KLASSIK: Haben Sie ein Beispiel?

Tobias Reichard: Die Pianistin Lola Kronheimer, die auch an der Musikhochschule studiert hat, die eine sehr talentierte Pianistin war und am Vorabend des Nationalsozialismus erste größere Erfolge hier in München gefeiert hat. Gleichzeitig war sie verliebt in einen nationalsozialistischen Komponisten, also auch hier zeigt sich, dass diese Schwarz-Weiß-Trennung oftmals im Alltag nicht standhält. Und beide waren gezwungen, ihre Beziehungen verdeckt auszuleben, weil das für beide mit Risiken verbunden war. Ihr Geliebter ist dann sehr früh gestorben, und sie hat komplett den Zugang zur Musik verloren. Sie konnte bis ins hohe Alter keine Musik mehr machen, sich nicht mehr ans Klavier setzen, teilweise nicht mal mehr Musik hören und erst im hohen Alter, als sie Frieden geschlossen hat mit ihrer Vergangenheit, war es dann möglich, dass sie wieder Musik machte.

Verantwortung im damaligen NS-Repräsentationsbau 

BR-KLASSIK: Schauen wir mal ins Heute. In den vier Jahren, in denen es jetzt das Ben-Haim-Forschungszentrum gibt, ist politisch viel passiert. 2021 haben wir 1.700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland gefeiert. Aber wir kriegen auch mit, dass es vermehrt antisemitische Übergriffe gibt. Und seit dem Krieg in Gaza und Israel, höre ich, dass Veranstaltungen oder Einrichtungen jüdischer Kultur mit mehr Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet werden müssen. Sind Sie davon betroffen?   

Tobias Reichard: Also natürlich können wir am Thema Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft als Musikhochschule nicht vorbeigehen, gerade weil wir in einem so historisch belasteten Gebäude, im ehemaligen NS-Repräsentationsbau sitzen. Und deswegen ist es für uns ganz zentral, uns mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Natürlich versuchen wir, jüdische Musik, jüdische Musikgeschichte und jüdische Musikerinnen und Musiker möglichst differenziert und in ihrer ganzen Vielfalt zu zeigen. Es geht nicht "nur" darum,  auf den Verfolgungshintergrund hinzuweisen und auf die Geschichte des Nationalsozialismus zu verweisen. Es geht auch darum, zu zeigen, wie vielfältig jüdisches Musikleben in der Vergangenheit war, aber auch wie vielfältig es in der Gegenwart ist. Und das ist, glaube ich, eine ganz zentrale Aufgabe, die dieses Forschungszentrum auch zu leisten hat.

Konzert "go on again" - Werke von Leonard Bernstein und Paul Ben-Haim

Das Konzert mit Studierenden der HMTM & AdBK findet statt am Samstag, 3. Februar 2024 um 19:00 Uhr in der Münchner Reaktorhalle. Mehr zum Programm lesen Sie hier.

Innerer Zwiespalt in der Musik: Bernstein und Ben-Haim 

BR-KLASSIK: Beim Konzert am Samstag stehen zwei Werke auf dem Programm, die beide einen religiösen Kontext haben, eins von Leonard Bernstein und eins von Paul Ben-Haim, und beide reflektieren laut Ankündigung gesellschaftliche Ängste und Traumata. Inwiefern?

Der Komponist Paul Ben-Haim | Bildquelle: Wikimedia Commons Der Komponist Paul Ben-Haim | Bildquelle: Wikimedia Commons Tobias Reichard: Beide Werke sind sehr stark in ihrem jeweiligen Entstehungskontext verwurzelt. Bei Bernstein war der zeithistorische Hintergrund der Vietnamkrieg, mit dem er sich auch in diesem Werk auseinandergesetzt hat. Er versucht aber das zu verbinden mit persönlicher Reflexion über seine eigenen Glaubenszweifel. Und am Ende steht für ihn die Frage, wie man trotz Zweifel, trotz Rückschlägen und trotz Unsicherheiten mit dem eigenen Glauben eine Form der Gottesverehrung finden kann.

Bei Paul Ben-Haim war auch der zeithistorische Kontext ganz entscheidend. Er ist im Jahr 1933 nach Palästina emigriert und wurde dann im späteren Israel einer der wichtigsten Personen für das dortige Musikleben. Und auch für ihn stellte sich die Frage: Wie muss eigentlich eine zeitgenössische Musik klingen, die einerseits der Lebensrealität in Israel gerecht wird, die aber andererseits auch seine eigenen kompositorischen Wurzeln, die in Deutschland waren, gerecht werden kann. Und für Ben-Haim und auch für Bernstein war die Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität immer wieder auch etwas, woraus sie künstlerisch Funken geschlagen haben, auch wenn sie zeitlebens mehr oder weniger gezweifelt haben. 

Sednung: Allegro am 01. Februar ab 06:05 Uhr

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